Istanbul Vor zwei Jahren, beim Staatsbesuch des russischen Präsidenten, hatte sich Recep Tayyip Erdogan noch zu einer gewagten Inszenierung hinreißen lassen: Er sprach von „meinem besten Freund Wladimir Putin“. Doch das ist lange her.
Szenen einer Männerfreundschaft sind für Erdogan in Zeiten des Krieges tabu, stattdessen bietet sich der türkische Staatspräsident im Ukrainekonflikt immer wieder als Vermittler an. Jetzt kann er einen Teilerfolg verbuchen: Die ersten hochrangigen Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sollen auf türkischem Boden stattfinden.
Der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba hat die Absicht baldiger Gespräche mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow in der türkischen Hafenmetropole Antalya bekräftigt. „Derzeit ist der 10. März geplant“, teilte Kuleba in einer Videobotschaft mit. „Falls er [Lawrow] anfängt, die absurde Propaganda zu wiederholen, die in letzter Zeit ausgeteilt wurde, wird er von mir die harte Wahrheit hören, die er verdient.“
Das russische Außenministerium in Moskau bestätigte Agenturen zufolge, ein Treffen von Ressortchef Sergej Lawrow und seinem ukrainischen Kollegen Dmitro Kuleba sei am Rande des Diplomatie-Boards in Antalya geplant. Die Gespräche sollten gemeinsam mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu im Dreierformat stattfinden.
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Suche nach weltpolitischer Geltung
Nach Ansicht unabhängiger Experten handelt Erdogan dabei keineswegs selbstlos – und auch keineswegs in westlicher Mission. Erdogan sei seinem Wunsch, eine tragende Rolle in der Weltpolitik einzunehmen, einen Schritt nähergekommen, sagt etwa der türkische Analyst Selim Koru, Fellow am Overseas Coverage Analysis Institute und Mitglied des Thinktanks Tepav in Ankara. Wer davon ausgehe, der türkische Präsident rücke mit seinen Vermittlungsversuchen in Richtung Westen, irre. Das Gegenteil könne der Fall sein – vor allem wenn Putin seinen Angriffskrieg gewinnen sollte.
„Ein mögliches Versagen der Nato, Moskaus Expansionismus zu stoppen, wird Erdogans Überzeugung von der schwindenden Relevanz des Bündnisses bestätigen“, glaubt Selim Koru. „Wenn Putin einen militärischen Sieg gegen die Ukraine erringt und in der Lage ist, die wirtschaftlichen und diplomatischen Folgen zu überstehen, wird dies den Übergang der Türkei in eine Submit-Nato-Ära beschleunigen“, glaubt Koru.
Ryan Gingeras, Professor für Nationale Sicherheit an der US-amerikanischen Naval Postgraduate Faculty, fügt hinzu: „Es ist möglich, dass Erdogan Putins Überleben oder dessen Sturz als Vorboten seiner eigenen Zukunft sieht.“
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Die Türkei hat intensive Beziehungen zu beiden Ländern und verzichtet daher zunächst auf Sanktionen gegen Russland. Damit schützt Erdogan die heimische Wirtschaft. Ein Drittel des türkischen Bedarfs an Erdgas kommt aus Russland, außerdem ein Sechstel aller Touristen. Der bilaterale Handel mit Russland ist zuletzt auf rund 30 Milliarden US-Greenback jährlich gestiegen und damit quick so hoch wie der mit Deutschland.
Auch mit der Ukraine betreibt die Türkei regen Handel und bezieht zum Beispiel einen Großteil seiner Weizenimporte aus dem Land. „Egal, wie der Krieg ausgeht, die türkische Wirtschaft wird einen großen Schaden davontragen“, schlussfolgert der türkische Kolumnist Melih Altinok.
Seit Herbst vergangenen Jahres versucht Erdogan daher, zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Er steht damit in direkter Konkurrenz zu seinen Nato-Partnern in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA, die ebenfalls diplomatisch intervenieren.
Politische Beobachter gehen aber davon aus, dass die Türkei als Mediator erfolgreicher sein könnte. Denn das Land ist zwar Nato-Associate, wird aber nicht wirklich der westlichen geopolitischen Sphäre zugerechnet.
Außerdem steht Erdogan Putin ideologisch näher als dem ukrainischen Präsidenten Selenski, sagt Analyst Koru – und das, obwohl die Türkei der Ukraine sogar Kampfdrohnen liefert. Die Türkei nähere sich demnach nicht der Ukraine an, um Russlands Interessen auszugleichen, sondern um eigene wirtschaftliche Interessen zu verfolgen.
Erdogan hatte zu Beginn der russischen Invasion Ende Februar von Putin gefordert, er müsse die Grenzen der Ukraine anerkennen. „Putins Triumph hätte dennoch für manche Menschen im Präsidentenpalast in Ankara sehr aufregende Folgen“, schreibt Koru in einer Analyse. „Es würde der türkischen Rechten zeigen, dass sie an der Schwelle zu einer neuen Ära in der Weltpolitik stehen.“
In dieser neuen Ära würde das westliche System als teilweise gescheitert gelten, so Koru. Für mittelmächtige Länder wie die Türkei gäbe es dadurch mehr Möglichkeiten, den eigenen Einfluss auszureizen. Die militärischen Abenteuer der Türkei in den vergangenen Jahren, von Syrien über den Irak, Libyen und Aserbaidschan bis zum Streit um Seegrenzen in der Ägäis, zeigten, dass Erdogan genau darauf spekuliert.
Ein Sieg Russlands gegen die Ukraine würde Erdogan in seiner Meinung bestärken, dass die Einflussmöglichkeiten des Westens begrenzt sind. Tatsächlich teilen diese Weltsicht nicht nur Anhänger von Erdogans AKP. Auch in konservativen Schichten der Opposition glauben viele, dass die Türkei nicht mit dem Westen, sondern gegen ihn arbeiten solle.
Koru räumt allerdings ein, dass die Türkei wohl kaum aus der Nato austreten werde. Und dann könnte es ja auch sein, dass Russland nicht siegreich aus dem Konflikt hervorgeht, wie der schleppende Fortschritt der russischen Invasion nahelegt.
Letztlich gehe es Erdogan um sein eigenes politisches Überleben, argumentieren die beiden Türkeiexperten Koru und Gingeras. Der türkische Staatschef dürfte daher alles tun, was nötig ist, um seine eigene Macht auszubauen – unabhängig davon, wie der Krieg ausgeht.
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