Brüssel Die niederländische Regierung setzt sich für eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland ein. „Die Niederlande sind offen dafür, mehr Banken von Swift auszuschließen“, sagte die niederländische Finanzministerin Sigrid Kaag im Interview mit dem Handelsblatt und anderen europäischen Medien. Die EU hatte zuletzt mehrere russische Banken von dem Zahlungsdienstleister Swift abgekoppelt, einzelne Institute wie die Gazprombank aber verschont, um Finanzkanäle für Rohstoffgeschäfte offenzuhalten.
Die Ministerin, seit 10. Januar im Amt, sprach sich außerdem dafür aus, „die Verhängung von Sanktionen gegen Treuhandbüros und, wo angemessen, gegen die Anbieter von rechtlichen Beratungsdiensten zu beschleunigen, die es den Oligarchen und der Clique um Putin herum ermöglichen, ihr Geld beiseitezuschaffen“.
Der Krieg und seine wirtschaftlichen Folgen verleihen auch der Debatte um eine Reform der europäischen Schuldenregeln Auftrieb. „Wir sind offen und konstruktiv“, stellte Kaag klar. Allerdings müsse auch „die Einhaltung und die Kontrolle der Regeln verbessert“ werden. Der Schuldenpakt, der ein Haushaltsdefizit von maximal drei Prozent und eine Gesamtverschuldung von höchstens 60 Prozent der Wirtschaftsleistung vorschreibt, wurde in der Coronakrise ausgesetzt.
Die EU-Kommission erwägt nun, die Anwendung der Schuldenregeln weiter zu verschieben. Die Niederlande lehnen dies nicht prinzipiell ab, legen sich aber nicht fest: „Wir müssen erst konkrete Vorschläge abwarten und auch die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen der Krise besser verstehen“, sagte Kaag, die am Montag in Berlin mit Bundesfinanzminister Christian Lindner zusammentrifft.
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Frau Kaag, Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland befürworten, wenn Kremlchef Wladimir Putin den Krieg nicht beendet. Woran denken Sie konkret?
Wir haben uns im Kreis der EU-Finanzminister darauf verständigt, die Verhängung von Sanktionen gegen Treuhandbüros und, wo angemessen, gegen die Anbieter von rechtlichen Beratungsdiensten zu beschleunigen, die es den Oligarchen und der Clique um Putin herum ermöglichen, ihr Geld beiseitezuschaffen und den Sanktionen auszuweichen. Wir warten auf den Vorschlag der Kommission. Die Niederlande sind bereit, den Druck weiter zu erhöhen.
Putin bezeichnet die Sanktionen als „Kriegserklärung“. Schreckt Sie das?
Putin tut so, als ob unsere Reaktion, die legitim und angemessen ist, ein Eskalationsschritt sei. Tatsächlich ist die Eskalation die grobe Verletzung der Souveränität der Ukraine und die Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität des europäischen Kontinents. Europas Führungsspitzen kommunizieren ruhig und strategisch, um die Debatte nicht weiter anzuheizen.
Die aktuelle Berichterstattung des Handelsblatt zum Ukrainekrieg:
Sollten weitere russische Banken vom Swift-Netzwerk abgekoppelt und letztlich sogar Energieimporte aus Russland gestoppt werden?
Die Niederlande sind offen dafür, mehr Banken von Swift auszuschließen. Aber wir respektieren die Zögerlichkeit anderer EU-Staaten, die viel stärker abhängig vom Import russischen Gases sind. Ich bin sehr erfreut über die Einigkeit in der EU. Daher wäre es nicht ratsam, öffentlich über Szenarien zu spekulieren, die zu einer Verringerung oder gar zu einem Stopp von Gasimporten führen würden. Klar ist, dass wir jetzt die Vorsorge für den kommenden Winter treffen müssen. Wir hatten in dem Albtraum-Szenario, das wir erleben, noch Glück, dass wir einen relativ milden Winter hatten.
Was halten Sie von Plänen, Mitgliedstaaten oder Branchen zu kompensieren, die von den Kriegsfolgen besonders betroffen sind?
Wir hören, dass die EU-Kommission entsprechende Vorschläge erarbeitet. Wichtig ist, dass wir nationale Alleingänge vermeiden und zunächst auf EU-Ebene diskutieren.
In Paris und Brüssel gibt es Überlegungen, erneut gemeinsame Schulden aufzunehmen – dieses Mal für die Aufrüstung der EU.
Wir müssen erst konkrete Vorschläge abwarten und auch die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen der Krise besser verstehen. Wichtig ist für uns, dass die Kommission zunächst die existierenden Instrumente einsetzt und dass Geld genutzt wird, das bisher nicht abgerufen wurde.
Die Europäer zahlen die höchsten Gaspreise der Welt. Muss die EU über drastische Schritte, etwa einen Preisdeckel, nachdenken?
Wir erleben eine ultimative Krise, einen extremen Schock, der uns verdeutlicht: Wir sind geopolitisch zu stark exponiert und müssen unsere Pläne zur Energietransformation beschleunigen. Kommt eine Deckelung der Energiepreise in Betracht? Möglicherweise. Aber wenn wir in den Preismechanismus eingreifen, müssen wir geeint vorgehen und sicherstellen, dass die möglichen Vorteile ausgeglichen sind.
Debatte um höhere Rüstungsausgaben
Wie wirkt sich der Krieg auf die geplante Reform der europäischen Schuldenregeln aus?
Einige Debatten wirken angesichts des ungeheuren Schocks, den wir mit Russlands Invasion erleben, quick anachronistisch. Andererseits sehen wir, wie die EU im Eiltempo Entscheidungen fällt, die vor dieser Krise Jahre gebraucht hätten oder sogar unmöglich gewesen wären. Der politische Wille ist da, Waffen zu liefern, Finanzhilfen zu mobilisieren und Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist extrem wichtig, dass wir auch mit der Reform des Schuldenpakts vorankommen.
Was schwebt Ihnen vor?
Ich habe gerade einen Transient an das niederländische Parlament geschickt, der unsere Place schildert. Wir sind offen und konstruktiv, betonen die Bedeutung einer Reform. Wir wollen zugleich, dass die Einhaltung und die Kontrolle der Regeln verbessert wird.
Der Schuldenpakt wurde in der Coronakrise ausgesetzt. Die Kommission erwägt nun, die Aussetzung zu verlängern. Ist das ratsam?
Warten wir den genauen Vorschlag ab, er soll im April kommen. Wir werden dann mehr über die makroökonomische Perspektive vieler EU-Länder wissen und können besser beurteilen, ob ein solcher Schritt berechtigt wäre. Deutschlands Entscheidung, 100 Milliarden Euro in die Landesverteidigung zu investieren, ist ein weiterer Faktor in der Debatte. Es gibt den Vorschlag einiger Länder, Verteidigungsausgaben von den Schuldenregeln auszuklammern. Diese Diskussionen beginnen jetzt. Wir sind davon überzeugt, dass Investitionen wichtig sind. Aber wir sehen derzeit größere Risiken in einer zu großen Flexibilität.
Das heißt: Den Vorschlag einer „goldenen Investitionsregel“, sprich Ausnahmen für bestimmte wünschenswerte Ausgaben, lehnen Sie ab?
Wir sagen nicht ein für alle Mal Nein, aber wir weisen auf die Risiken hin: die Aufweichung der Regeln und weniger Klarheit.
Ihr deutscher Amtskollege Christian Lindner sieht das ähnlich. Wie verstehen Sie sich?
Wir haben eine sehr herzliche, respektvolle Beziehung, auch wenn wir uns bisher nur ein paar Mal getroffen haben. Ich werde an diesem Montag in Deutschland sein, dann können wir stärker ins Element gehen.
Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire sagt, dass die Kluft zwischen Nord- und Südeuropäern in der Wirtschaftspolitik überwunden sei. Stimmt das?
Ich denke schon, aber ich habe die Äußerung auch als Mahnung verstanden, sich nicht in künstlichen Differenzen zu verlieren. Wir alle repräsentieren unsere nationalen Regierungen, aber wir verfolgen das gemeinsame Ziel, den Wohlstand zu mehren und unsere Union zu schützen.
Ungarn und Polen drohen Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU. Ändert der Krieg nun das Kalkül? Geht die Einheit der EU vor?
Länder wie Polen und Ungarn nehmen Flüchtlinge auf, das würdigen wir. Zudem sind die wirtschaftlichen Auswirkungen dort stärker, etwa die Inflation. All das müssen wir im Blick behalten, ohne dabei zu übersehen, dass die Rechtsstaatlichkeit das ist, was uns als Union verbindet.
Frau Kaag, vielen Dank für das Interview.
Das Gespräch wurde gemeinsam mit anderen EU-Korrespondenten geführt.
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