am zweiten Weihnachtstag habe ich mal wieder erlebt, was ich mangels eines besseren Begriffs gerne das „Deutschland-Gefühl“ nenne: Eine lange Autobahnfahrt zurück von der Verwandtschaft. Die Namen der Mittelgebirge wechseln, die Aussicht bleibt gleich: winterkahle Wälder, die Stämme schwarz vor Nässe. In den Baumkronen hängen Nebelfetzen. Windräder rühren durchs Dezemberzwielicht, an den Ausfahrten leuchten die Pylone der Autohöfe. Und im Radio markiert das „Biep-Biep-Bieeep“ des Deutschlandfunks die verrinnenden Stunden.
Kennen Sie diese Stimmung? Und falls ja, haben Sie dafür einen treffenderen Namen? Dann lassen sie ihn mich gerne wissen!
Ein passender Title fehlt auch noch für die seltsam zwiespältige Stimmung, die kurz vor dem Jahreswechsel in Wirtschaft und Politik herrscht: Die Kaste der Pandemie-Expertinnen und -Experten warnt unisono vor der gewaltigen Omikron-Welle, die Deutschland innerhalb der kommenden Wochen überrollen werde.
In heroischer Selbstlosigkeit forderte der Deutsche Lehrerverband am gestrigen Sonntag erneut, dass die Politik nicht um jeden Preis am Präsenzunterricht festhalten dürfe und brachte stattdessen gegenüber den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland einen „kurzen, harten Lockdown“ der Schulen ins Gespräch.
Gleichzeitig jedoch sinken die Inzidenzen, die Bundesregierung hat eins ihrer selbstgesetzten Impfziele bereits zu Weihnachten erreicht. Die Intensivstationen leeren sich wieder und die deutschen Unternehmen blicken mit ungewöhnlicher Zuversicht aufs neue Jahr: Keiner der 48 vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) anlässlich des Jahreswechsels befragten Wirtschaftsverbände rechnet mit einem Produktions- oder Geschäftsrückgang.
Das hat es noch nie gegeben und zeugt von einer außerordentlich hohen Erwartungshaltung für die Konjunktur. Dafür verantwortlich sind laut IW-Chef Michael Hüther Nachholeffekte angesichts von Pandemie und Lieferverzögerungen sowie historisch hohe Auftragsbestände.
Bei so viel Optimismus der Unternehmen wirken die Äußerungen von Claudia Buch quick wie ein prophylaktischer Ordnungsruf: Die Vizechefin der Bundesbank wies in der vergangenen Woche darauf hin, dass die Pandemie noch nicht überwunden sei – und warnte speziell die Geschäftsbanken vor allzu großer Sorglosigkeit.
Unangemessene Partylaune muss sich zumindest Commerzbank-Chef Manfred Knof nicht vorwerfen lassen. „2022 wird nicht nur wegen der Coronakrise ein herausforderndes Jahr“, warnt er im Interview mit dem Handelsblatt. „Die Inflation belastet viele unserer Kunden, insbesondere die gestiegenen Energie- und Immobilienpreise.“ Außerdem gebe es infolge der Pandemie nach wie vor Lieferkettenprobleme und große geopolitische Risiken.
Die Erkenntnis: Selten unterschied sich der Blick aufs halbvolle Glas derart stark von dem aufs halbleere – je nachdem ob man den Pegel aus der Perspektive eines Bankers, eines Industriellen oder eines Epidemiologen betrachtet.
Oder wie es Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), in seinem Gastbeitrag für das Handelsblatt ausdrückt: „Alle Prognosen werden wieder einmal das Papier nicht wert sein, auf dem sie geschrieben stehen.“
Aus den wachsenden ökonomischen Unwägbarkeiten ziehen immer mehr Investoren eine drastische Konsequenz: Sie haben den Glauben aufgegeben, mit ihren Geldanlagen besser abschneiden zu können als der Gesamtmarkt.
Und sie misstrauen den hochbezahlten Managern von Investmentfonds, die ihnen ebendieses versprechen. Stattdessen ist der Ansturm auf börsengehandelte Indexfonds (ETF), die lediglich passiv einen bestimmten Börsenindex nachbilden, so groß wie nie.
Mein Kollege Ingo Narat hat recherchiert: Bis Mitte Dezember investierten Anleger in Europa nach Schätzungen der Fondsagentur Morningstar 151 Milliarden Euro in ETFs. Das sind quick 50 Prozent mehr als im vergangenen Jahr.
Nahezu drei Viertel der Neugelder flossen in Europa in Produkte auf Aktienindizes. In Deutschland treiben immer stärker Sparpläne das Geschäft. „Das ist für viele Non-public eine perfekte Lösung zur eigenen Vorsorge, und in dem Bereich ist noch viel Luft nach oben“, glaubt Ali Masarwah, Analyst bei der Fondsplattform Envestor.
In Südafrika ist am gestrigen Sonntag Desmond Tutu im Alter von 90 Jahren gestorben. Den Friedensnobelpreis bekam der ehemalige anglikanische Erzbischof von Kapstadt für seinen Kampf gegen die Rassentrennung.
Einen zweiten Nobelpreis hätte Tutu dafür verdient, dass er der Welt bewies: Eine große Mission und ein hohes kirchliches Amt müssen nicht mit entsprechendem Bombast einhergehen. Tutu struggle ein kleiner Mann voller Warmherzigkeit und Witz. Gerne zitierte er den Spruch: „Als die Missionare nach Afrika kamen, hatten sie die Bibel und wir das Land. Dann schlossen wir die Augen um zu beten, und als wir sie wieder aufmachten, hatten wir die Bibel und sie das Land.“
Unser Südafrika-Korrespondent Wolfgang Drechsler erinnert in seinem Nachruf auch an eine Seite von Desmond Tutu, die in den Trauerbekundungen aus aller Welt (Papst, Queen, Bundespräsident) zu kurz kommt: Dass Tutu in seinen späten Jahren vor allem zum Kritiker der korrupten südafrikanischen Regierungspartei ANC geworden struggle.
Und dann ist da noch ein weiterer Diener im Weinberg des Herrn: der Nürnberger Jesuitenpater Jörg Alt, der am heutigen Monntag einen Termin mit seiner Anwältin hat. Grund: Ein Ermittlungsverfahren wegen „besonders schwerem Diebstahl“, von dem Alt nach eigenem Bekunden am Tag vor Heiligabend erfuhr. Alt verrichtet Gottes Werk auf ungewöhnliche Weise: Er containert. Der Priester steigt nachts über die Zäune von Supermärkten, sucht dort in Müllcontainern nach weggeworfenen, aber noch essbaren Lebensmitteln und verteilt sie an Bedürftige.
Das ist womöglich vom christlichen Geist der Nächstenliebe gedeckt, aber nicht vom Strafgesetzbuch. Alt setzt auf eine Anklage gegen sich, um die Verschwendung von Lebensmitteln anzuprangern und am Ende vielleicht sogar das Containern zu legalisieren. „Ich freue mich auf die Verhandlung“, verkündete der streitbare Jesuit by way of Twitter.
Wir vom Handelsblatt meinen: Im Kampf gegen Lieferengpässe verdienen auch ungewöhnliche Strategien Anerkennung.
Ich wünsche Ihnen einen Tag, an dem Sie alle Zäune überwinden.
Herzliche Grüße
Ihr
Christian Rickens
Textchef Handelsblatt
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