Washington Äußerlich erinnert nichts mehr an den Terroranschlag, der vor einem Jahr die USA und die Welt erschütterte. Die Soldaten der Nationalgarde, die das Kapitol nach dem Sturm eines radikalen Mobs abgeriegelt hatten, sind weg, die Stacheldrahtzäune abgebaut. Doch die Wunden des Anschlags vom 6. Januar 2021, der als Attacke auf die US-Demokratie in die Geschichte einging, sind tief.
Das Land spürt die Folgen bis heute, räumte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag ein. Im Kongress hielt er eine Ansprache. „In diesem Second müssen wir entscheiden, was für eine Nation wir sein wollen“, sagte er, eingerahmt von zwei US-Flaggen in der Rotunda, dem historischen Saal unter der Kongresskuppel.
„Wollen wir politische Gewalt als Norm akzeptieren? Wollen wir erlauben, dass die Stimme des Volks ausgehebelt wird? Wollen wir eine Nation sein, die nicht im Licht der Wahrheit lebt, sondern im Schatten der Lügen?“, fragte Biden und rief die Bürgerinnen und Bürger auf: „Wir können es uns nicht erlauben, eine solche Nation zu sein.“
Üblicherweise sprechen US-Präsidenten nur in ihrer Rede zur Lage der Nation auf dem Capitol Hill. Doch der Sturm aufs Kapitol struggle ein Terroranschlag, den es in dieser Type noch nie gab und sich aus der Wut von Amerikas weißer Mittelschicht speiste. In ihrer modernen Geschichte kamen die USA wohl nie so nahe an einen Staatsstreich.
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Tausende Anhänger des damaligen Präsidenten Donald Trump strömten in die Gänge, besetzten Büros und Sitzungssäle, prügelten mit Baseballschlägern auf Polizisten und Inventar ein. Fünf Tote und mehr als 150 verletzte Polizisten, das ist die blutige Bilanz der Krawalle.
„Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen, das ist es, was große Nationen tun“, mahnte Biden. Allerdings ist die Aufarbeitung der Geschehnisse – und der „Weg nach vorn“, wie Biden forderte – unklarer denn je. Biden struggle mit dem Versprechen angetreten, die Polarisierung der USA zu lindern. Nach vier Jahren Trump, der mit Nationalismus, Populismus und Lügen zündelte, wollte der 78-jährige Biden einen Neustart versuchen.
Auf internationaler Bühne tritt er als Verteidiger westlicher Werte auf, im Kontrast zu Autokratien wie Russland und China. Im Dezember organisierte das Weiße Haus einen globalen Demokratie-Gipfel.
Doch im eigenen Land stößt Biden mit seinen Bemühungen an Grenzen. Schließlich lebt in vielen Regionen der USA die wohl größte amerikanische Verschwörungstheorie weiter: dass Donald Trump aufgrund einer manipulierten Wahl um seinen Sieg gebracht wurde. Ein Drittel der US-Amerikaner zweifelt laut Umfragen an der Rechtmäßigkeit der Wahlen, obwohl sie von mehr als 50 Gerichten bestätigt wurde.
Trump nährt die Lüge der gestohlenen Wahl, in vielen Bundesstaaten hält sich eine hartnäckige Bewegung unter dem Slogan „Cease the Steal“ („Stoppt den Betrug“). Bei den wichtigen Kongresswahlen im November, den sogenannten Midterms, bewerben sich mehr als 160 Republikaner auf Ämter und Mandate, die den Wahlsieg von Biden leugnen. Viele von ihnen werden von Trump unterstützt, einige auch vom deutschen Investor Peter Thiel.
Trump ist mit Abstand der größte Spendensammler der Republikaner und hat ein mächtiges Netzwerk an Unterstützern aufgebaut, die ihm Einfluss bei den Midterms und womöglich auch bei den Präsidentschaftswahlen 2024 sichern sollen.
Trump hat direkte Schuld am Aufmarsch vor dem Kapitol
Der damalige Präsident hatte den Aufstand direkt provoziert und eine aufgeheizte Menge in Sichtweite des Kapitols dazu aufgerufen, zum Kongress zu marschieren. Ein Untersuchungsausschuss sammelte Hinweise, dass Trump auf den letzten Metern im Amt das verfassungsrechtliche Fundament der USA aushöhlen und den Wahlsieg an sich reißen wollte.
Laut Franita Tolson, Expertin für Wahlrecht an der College of Southern California, müsste nur ein Teil der Trumpisten auf wichtige Posten gewählt werden, um die Demokratie in den USA erneut ins Wanken zu bringen. Trumps Versuche, das Wahlergebnis zu sabotieren, seien nur deshalb gescheitert, „weil sich Staatsbeamte reihenweise dagegengestellt haben“, sagte sie dem Sender NPR.
Allerdings müsse man abwarten, wie viel Erfolg die Hardlinerkandidaten am Ende tatsächlich hätten, betonte der republikanische Stratege Whit Ayers in der „New York Occasions“. Trump sei zwar der beliebteste Republikaner, polarisiere aber extrem. Der Ex-Präsident könne Kandidaten in den Erfolg katapultieren – oder genau das Gegenteil bewirken. „Es ist ein sehr gemischtes Bild“, so Ayers.
Biden attackierte Trump am Donnerstag scharf, ohne seinen Namen in der Rede zu erwähnen. Der „frühere Präsident“ habe „ein Netz der Lüge“ über das Land gespannt, sagte er. „Sein gebeuteltes Ego kann nicht akzeptieren, dass er die Wahl verloren hat.“
Ob Bidens Worte Wirkung zeigen, ist fraglich. Sein Rückhalt ist im ersten Amtsjahr rapide gesunken. Querelen in der eigenen Partei blockieren Bidens Wirtschaftsagenda, Erfolge sind rar geworden. „Die Demokraten brauchen ein Wunder, um drohende Wahlverluste im November abzuwenden“, stellte die Beratungsfirma Morning Seek the advice of fest.
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