Genf Der Völkerrechtler Christian Tomuschat hat dem russischen Präsidenten Wladimir Putin schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen. Mit ihren Attacken treffe die russische Armee Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und sogar Atomkraftwerke. „Solche Angriffe sind laut den Genfer Konventionen strikt verboten“, sagte der emeritierte Professor für öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, und ehemaliges Mitglied der UN-Völkerrechtskommission im Handelsblatt-Interview.
Russland mache sich damit jeweils im Einzelfall eines Kriegsverbrechens schuldig, sagte Tomuschat. Die Strategie hinter den Verbrechen sei es, die ukrainische Bevölkerung zu terrorisieren. Die russische Regierung wolle „den Blutzoll unter den Zivilisten in die Höhe treiben und damit die politische Führung in Kiew zur militärischen Kapitulation zwingen“.
Dass die Verantwortlichen für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, hält der Völkerrechtler für fraglich. Weder die Ukraine noch Russland seien Vertragsstaaten des Römischen Statuts, das die rechtliche Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) bildet. Zudem werde Russland als Vetomacht verhindern, dass der UN-Sicherheitsrat den Angriffskrieg gegen die Ukraine an den ICC überweist.
Tomuschat warnte zudem, dass sich der Krieg in Nato-Länder wie Estland ausbreiten könnte. So könne Moskau unter Putin versuchen, die mehrheitlich russischsprachige Bevölkerung in der estnischen Stadt Narva gegen die estnische Regierung aufzustacheln, und den Staat so von innen aushöhlen. „Bei diesem Mann muss man leider das Schlimmste befürchten.“
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Herr Tomuschat, haben die Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine im Vergleich zu anderen Konflikten ein besonders schlimmes Ausmaß angenommen?
Ja. Die russische Artillerie schießt breitflächig in Wohngebiete, die russische Luftwaffe bombardiert Städte und besiedelte Gebiete aus der Luft. Dabei treffen die Angreifer Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und sogar Atomkraftwerkkomplexe. Solche Angriffe sind laut den Genfer Konventionen strikt verboten. Russland macht sich damit jeweils im Einzelfall eines Kriegsverbrechens schuldig, und es begeht überdies ein Verbrechen der Aggression gegen einen anderen souveränen Staat.
Welche Strategie verfolgt Russland mit den Kriegsverbrechen?
Offensichtlich sollen die Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin die ukrainische Bevölkerung terrorisieren. Putin will den Blutzoll unter den Zivilisten in die Höhe treiben und damit die politische Führung in Kiew zur militärischen Kapitulation zwingen. Zudem will Putin auf dem Boden der Ukraine weitere unabhängige Volksrepubliken ausrufen lassen, und seine Truppen versuchen, möglichst viele Symbole des benachbarten Staates zu zerstören. Die Ukraine in ihrer gegenwärtigen Kind soll ausgelöscht werden.
Wie könnten die Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden?
Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) hat eine Untersuchung der Kriegsverbrechen in der Ukraine begonnen. Allerdings ist es fraglich, ob es zu einem Verfahren vor dem Strafgerichtshof kommt, der für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen zuständig ist und demnächst auch das Verbrechen der Aggression wird aburteilen können. Weder die Ukraine noch Russland sind Vertragsstaaten des Römischen Statuts, das die rechtliche Grundlage für den ICC bildet. Zudem wird Russland als Vetomacht verhindern, dass der UN-Sicherheitsrat den Angriffskrieg gegen die Ukraine an den ICC überweist. Und: Russland müsste mutmaßliche Kriegsverbrecher ausliefern, was derzeit unwahrscheinlich ist. Verfahren in Abwesenheit gibt es vor dem ICC nicht.
Das hört sich nicht ermutigend an…
…andererseits kann gemäß dem Weltrechtsprinzip jeder Staat die mutmaßlichen Täter vor Gericht stellen und verurteilen lassen. Ein Beispiel ist das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Koblenz gegen zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes. Das Gericht verurteilte sie wegen ihrer Verbrechen in Syrien. Der Hauptangeklagte erhielt eine lebenslange Haftstrafe.
Könnte additionally theoretisch ein Gericht in Deutschland oder in Österreich, Luxemburg oder der Schweiz Wladimir Putin aburteilen?
Theoretisch ja. Nach allgemeinem Völkerrecht schützt auch die Immunität eines Staatsoberhaupts nicht vor Strafverfolgung wegen eines internationalen Verbrechens. Freilich müsste ein deutsches oder anderes Gericht der Particular person des russischen Präsidenten habhaft werden. Im Falle der russischen Kriegsverbrechen wird es jedoch sehr schwierig sein, die genauen Befehlsketten und die individuelle Verantwortung durch Beweise gerichtsfest zu rekonstruieren. Wer gab konkret die Kommandos für die Beschießung der Krankenhäuser und Wohngebiete mit Artillerie oder aus der Luft? Diese Fragen können Ermittler nur beantworten, wenn Russland kooperiert. Das tut die Regierung natürlich nicht. Die Putin-Streitkräfte begründen die Angriffe mit der Präsenz des ukrainischen Militärs in den Wohngebieten der Zivilisten und werfen den Ukrainern, die ihr Land verteidigen, auf perfide Weise vor, die Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen.
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Was nützt das humanitäre Völkerrecht, wenn sich Staaten und ihre Herrscher wie Russlands Putin nicht darum scheren?
Die Genfer Konventionen von 1949 und ihr Zusatzprotokoll I von 1977 regeln, welche Militäroperationen in einem Krieg gestattet und welche verboten sind, wie eben der Beschuss von Wohngebieten. Im Krieg sind nicht alle Mittel erlaubt, um militärischen Erfolg zu erzielen. Ebenso müssen die Kriegsgefangenen allzeit menschlich behandelt werden. Das humanitäre Völkerrecht soll verhindern, dass Kriege vollends in die Barbarei abrutschen. Seine Bestimmungen haben viel Unheil von den Menschen abgehalten, aber die Kriegsparteien müssen sich dieser Verbotsnormen bewusst sein und sie respektieren.
Welche rechtlichen Konsequenzen müssen die Russen innerhalb der UN befürchten?
Es gibt Forderungen, Russland als ständiges Mitglied mit Vetorecht aus dem UN-Sicherheitsrat auszuschließen oder sein Vetorecht wegen Verwirkung als unbeachtlich zu behandeln. Als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat trägt Russland genau wie die anderen vier Vetomächte eine überragende Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Diese Garantenstellung hat Russland mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff missbraucht. Aber leider sind alle Gedankenspiele, Russland seinen privilegierten Standing zu entziehen, sogenannte „Nonstarter“. Ganz einfach deshalb, weil Moskau alle Versuche, die in diese Richtung gehen, ignorieren und sogar blockieren kann. Moskau verhinderte mit seinem Veto bereits eine Verurteilung seines Angriffs durch den Sicherheitsrat. Bislang haben jedoch Vollversammlung und der Menschenrechtsrat der UN Putins Krieg scharf verurteilt. Russland hat in diesen beiden Institutionen keine Vetomacht. Vollversammlung und Menschenrechtsrat können aber keine Sanktionen verhängen. Immerhin sammelt eine Kommission des Menschenrechtsrats Beweise für Kriegsverbrechen. Diese Dokumente könnten in späteren Strafverfahren entscheidende Bedeutung gewinnen.
Welche Auswirkungen hat Russlands Angriffskrieg auf die internationale Rechtsordnung?
Putins Krieg ist nicht nur ein Angriff auf ein souveränes Land, sondern auch ein Angriff auf die internationale Rechtsordnung und die UN-Charta. Putins Aggression könnte sich in anderer Kind wiederholen, etwa in Estland. In der estnischen Stadt Narva leben rund 90 Prozent russischsprachige Menschen. Moskau könnte den Versuch machen, diese Bevölkerung gegen die estnische Regierung aufzustacheln, und den Staat so von innen aushöhlen.
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Welche Gefahren sehen Sie über Europa hinaus?
Auch Staaten außerhalb Europas könnten versucht sein, mit roher Gewalt ihre Ziele zu erreichen. China etwa sieht Taiwan als abtrünnige Provinz und will es unter seine Kontrolle bringen. Dabei schließen die Machthaber in Peking einen Militärangriff nicht aus. Die Führung rund um Präsident Xi Jinping schaut sich den weiteren Verlauf des Ukrainekriegs sehr genau an, es ist wie ein großer Testlauf.
Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass der Krieg auf Nato-Länder überschwappt?
Diese Gefahr gibt es. Für Putin handelt es sich gleichsam um eine persönliche Beleidigung, dass die Ukrainer sich tapfer wehren und nicht in wenigen Tagen kapituliert haben. Bei diesem Mann muss man leider das Schlimmste befürchten.
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