Düsseldorf Hat der Kreml der Ukraine nun Gespräche angeboten oder hat er nicht? Kommen die russischen Truppen in der Ukraine so voran, wie die Kreml-Kriegspropaganda tönt, oder nicht? Sind die Sanktionen des Westens so schwach, wie Putins Getreue höhnen, oder sind sie es nicht? Während der dritte Tag des Krieges auf grausame Artwork voranschreitet und nun auch die deutsche Regierung den Weg – zumindest indirekt – für Waffenlieferungen an Kiew freimacht, werden die Äußerungen aus Moskau rätselhafter.
Da ist die Sache mit den Gesprächen. Die Ukraine hat nach Kremlangaben Friedensverhandlungen mit Russland abgelehnt. „Da sich die ukrainische Seite grundsätzlich weigerte zu verhandeln, wurde der Vormarsch der wichtigsten russischen Streitkräfte heute Nachmittag gemäß dem Operationsplan wieder aufgenommen“, sagte eine Kremlsprecher. Abgesehen davon, dass der Vormarsch nach westlichen Erkenntnissen nie stoppte, sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podolak: „Ihre Kommentare, dass wir Verhandlungen abgesagt hätten, sind lediglich Teil ihrer Taktik.“
Ebenfalls unklar blieb im Laufe des Samstages, wie russische Truppen wirklich in der Ukraine vorankommen. Laut ukrainischen Quellen liegt die Zahl getöteter russischer Soldaten bei über 3500. Zudem seien 14 Flugzeuge, acht Hubschrauber und 102 Panzer sowie mehr als 530 weitere Militärfahrzeuge zerstört worden. „Sie treffen auf mehr Widerstand, als sie erwartet haben“, sagte ein Vertreter des US-Pentagons in einem Briefing für Journalisten. Die Truppen seien nicht „so weit oder so schnell vorgedrungen wie wir angenommen hatten“.
Bundesregierung erlaubt Waffenlieferung für Ukraine
Und auch die Verhöhnung westlicher Sanktionen durch Russland, die am Freitag noch anschwoll, wurde im Laufe des Samstags leiser. Wohl auch, weil immer mehr westliche Staaten sich für härtere Sanktionen gegen Russland und insbesondere einen Ausschluss des Landes vom Zahlungssystem SWIFT aussprachen. Selbst der deutsche Widerstand dagegen bröckelte. Kein EU-Mitgliedsstaat blockiere einen solchen Schritt mehr, sagte ein Vertreter des Pariser Präsidialamts am Samstagabend.
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Zudem gab die deutsche Regierung ihr hartes Nein zu Waffenlieferungen an die Ukraine auf – und genehmigt nun die Weitergabe deutscher Panzerfäuste über andere EU-Staaten nach Kiew.
Medwedews schrille Töne im Ukraine-Konflikt
So wie der Druck wächst, werden auch die Töne aus Moskau schriller. Vor allem der Putin-Vertraute Dimitri Medwedew stach dabei hervor. Der Ex-Präsident schrieb, diplomatische Beziehungen zum Westen seien „nicht besonders erforderlich“. Es sei an der Zeit, „die Botschaften mit Schlössern zu verschließen“. Nach der Suspendierung Russlands aus dem Europarat brachte er zudem die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Spiel.
Über all diesen Drohungen lag der Schatten einer weiteren Ausweitung der Kampfhandlungen vor allem in Kiew. Kämpfe gab es am Samstag aber auch um Odessa, Mariupol und andere Städte im ganzen Land.
Kämpfe in der Ukraine nehmen zu
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski berichtete am Nachmittag by way of Twitter: „Mehr als 100 000 Eindringlinge sind in unserem Land. Sie schießen heimtückisch auf Wohngebäude.“ Er appellierte an den UN-Sicherheitsrat, die Ukraine dringend politisch zu unterstützen.
Ex-Boxstar Wladimir Klitschko wandte sich in einem eindringlichen Appell an die Weltgemeinschaft und forderte Hilfe. „Erst heute wurden Raketen auf Zivilisten gefeuert, Zivilisten werden bei Sonderoperationen getötet – und all das passiert im Herzen Europas“, sagte der Bruder des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko in einer Videobotschaft auf Englisch. Es sei nun keine Zeit mehr zu verlieren, betonte Wladimir Klitschko. „Sie müssen jetzt handeln, um die russische Aggression zu stoppen – mit allem, was Sie haben. (…) In einer Stunde oder morgen ist es zu spät. Bitte handelt jetzt!“
Sein Bruder, Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, betonte: Die Hauptstadt sei weiter in ukrainischer Hand.
Die ukrainischen Behörden warnten: „Auf den Straßen unserer Stadt laufen jetzt Kampfhandlungen. Wir bitten darum, Ruhe zu bewahren und maximal vorsichtig zu sein!“
Die ukrainische Armee forderte die Bevölkerung auf, den russischen Vormarsch mit allen Mitteln zu stoppen. „Fällt Bäume, baut Barrikaden, verbrennt Reifen! Nutzt alles, was Ihr zur Hand habt!“, zitierte die Agentur Unian aus einer Mitteilung. Die Regierung ließ am Nachmittag mehr als 25.000 Waffen mit mehr als einer Millionen Schuss an Einwohner Kiews verteilen, um die Russen aufzuhalten.
Ukraine beklagt 198 zivile Opfer
Nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministeriums wurden bis Samstagnachmittag insgesamt 198 Zivilisten getötet. Russland bestreitet, dass zivile Einrichtungen angegriffen werden und warf seinerseits der ukrainischen Seite den Beschuss von Wohngebieten im Separatistengebiet Donbass vor.
Diese Angaben der Kriegsparteien können nicht von unabhängiger Seite überprüft werden. Gesicherte Informationen sind immer schwerer verfügbar. Viele westliche Journalisten haben Kiew verlassen.
In Deutschland kamen erste Flüchtende an, ihre Zahl warfare aber zunächst noch gering. Ukrainische Bürger können ohne Visum in die EU einreisen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) geht davon aus, dass bereits vor Beginn der russischen Invasion 860 000 Binnenflüchtlinge im Land unterwegs waren.
Rund um den Globus wird weiter aus Solidarität mit der Ukraine demonstriert. In mehreren deutschen Städten gingen Tausende auf die Straßen, vor allem in Düsseldorf, Frankfurt und München gab es größere Kundgebungen. In Berlin ist für Sonntag eine Demonstration geplant.
So berichtet das Handelsblatt über die Entwicklungen in der Ukrainekrise:
Trittin: „Nato-Staaten müssen sich gegenseitig rückversichern“
Wie eindrücklich die Ereignisse gerade wirken, zeigt sich auch daran, wie sehr sich gerade bei den Grünen die Haltung ändert. Mehr Geld für die Bundeswehr? Kohleausstieg verschieben, um unabhängig von Russlands Fuel zu werden? Scheint nun alles möglich.
Warum, das erklärt der Grünen-Bundestagsabgeordnete und Außenpolitiker Jürgen Trittin am Nachmittag im Gespräch mit dem Spiegel. Er gibt zu bedenken, dass nicht klar ist, ob Putin vor den Nato-Staaten Halt macht. Darauf einstellen müsse man sich, indem sich die „Nato-Staaten gegenseitig rückversichern“.
Der außenpolitische Sprecher seiner Fraktion sagte, dass seine Partei auch deshalb dafür sei, weitere Soldaten nach Litauen zu verlegen. „Das ist das Sign an Putin: Wenn du Litauen angreifst, dann greifst du nicht nur Litauen an, sondern deutsche Soldaten. Wenn du Rumänien angreifst, dann greifst du US-Soldaten an. Wenn du Estland angreifst, greifst du britische Soldaten an.“
Ob auch der unter Druck geratene Bundeskanzler diese Signale aufnimmt? Derzeit berät er mit den Amtskollegen aus Polen und Litauen. Morgen dann gibt Scholz eine Regierungserklärung vor dem Bundestag.
Mit Agenturmaterial.
Mehr: Wie wehrhaft ist Europa? Die wichtigsten Antworten zu den Sanktionen gegen Russland