Brüssel Der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, stuft Chinas Wirtschaftsboykott gegen Litauen als ökonomischen Nötigungsversuch ein. In Zukunft will die EU solche Zwangsmaßnahmen mit Gegensanktionen ahnden können. Dafür hat die Brüsseler Behörde am Mittwoch ein neues Instrument vorgeschlagen, das ihre handelspolitischen Kompetenzen erheblich ausweiten würde.
Es gehe darum „uns zu schützen, wenn ein Drittstaat internationale Regeln bricht“, sagte Dombrovskis im Interview mit dem Handelsblatt und einigen anderen europäischen Medien. Zugleich betonte er, dass die EU-Kommission ihre Macht nur defensiv einsetzen wolle.
Das Instrument solle nur in bestimmten Fällen zur Anwendung kommen. Und weiter: „Wir erwarten zudem, dass das Instrument abschreckende Wirkung haben wird.“
Bei der Anwendung des neuen Devices setzt die Brüsseler Behörde auf die Hilfe der Wirtschaft. Die EU wolle künftig prüfen, „welche Beschwerden von Mitgliedstaaten, europäischen Wirtschaftsverbänden oder einzelnen Unternehmen gegen bestimmte Handlungen anderer Länder vorgebracht werden“, erläuterte Dombrovskis. Man werde dann „von Fall zu Fall“ entscheiden, ob ein Nötigungsversuch vorliege und einen Gegenschlag rechtfertigen könnte.
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Herr Dombrovskis, die EU will sich eine Lizenz zur Verhängung von Vergeltungssanktionen ausstellen. Besteht damit nicht die Gefahr, dass die Europäer die regelbasierte Weltordnung weiter beschädigen, die sie eigentlich vorgeben, schützen zu wollen?
Nein, denn dieses Instrument ist genau dafür da, uns zu schützen, wenn ein Drittstaat internationale Regeln bricht. Es ist ein defensives Werkzeug. Es gibt uns die Möglichkeit, schneller und kraftvoller zu reagieren – und wirkt damit abschreckend auf Länder, die internationales Recht verletzen.
Möglichkeiten, gegen ein solches Verhalten vorzugehen, gibt es doch schon: in Type der Streitschlichtung bei der Welthandelsorganisation WTO.
Ja, Beschwerden bei der WTO sind möglich, aber wir kennen alle die derzeitige State of affairs: Die Instanzen zur Streitschlichtung funktionieren nicht. Wir setzen jetzt daher in die Tat um, was wir in unserer Handelsstrategie angekündigt haben. Dass wir multilateral handeln, wenn wir es können, aber auch unsere autonomen Handlungsmöglichkeiten stärken, um darauf zu reagieren, wenn sich Drittländer nicht an die Regeln halten.
Aber wo ziehen Sie die Grenze? Wann ist die Schwelle zum wirtschaftlichen Nötigungsversuch überschritten?
Wir müssen zwischen klassischen Wirtschaftsstreitigkeiten und ökonomischen Erpressungsversuchen unterscheiden. Klassische Wirtschaftsstreitigkeiten sind Zölle, Dumping-Praktiken oder Investitionsschranken. Ein Erpressungsversuch liegt dann vor, wenn ein Land mittels Eingriffen in den Handelsaustausch und die Investitionsflüsse darauf abzielt, die EU oder ihre Mitgliedstaaten dazu zu zwingen, bestimmte politische Entscheidungen zu treffen.
Können Sie ein paar Beispiele geben?
Wir legen uns nicht darauf fest, welche Formen eine solche ökonomische Nötigung annehmen muss. Unsere Definition ist bewusst offengehalten. Ein mögliches Beispiel wären exterritoriale Sanktionen. Aber es kommen auch andere infrage. So sieht sich Litauen derzeit mit der State of affairs konfrontiert, dass China den Handel aufgrund von bestimmten politischen Entscheidungen mit Blick auf Taiwan beschränkt. Das ist ein Fall, der sicherlich eine Untersuchung mithilfe des Antisanktionsinstruments rechtfertigen würde. Genauso könnte die Unterbrechung von Gaslieferungen, wie zuletzt von Belarus angedroht, unter die neuen Regelungen fallen. Wir werden von Fall zu Fall entscheiden.
Auch die EU scheut sich nicht, Sanktionen zu verhängen, um ihre außenpolitischen Interesse durchzusetzen.
Das wird auch so bleiben. Unser Vorschlag greift nicht in die bestehende Sanktionsgesetzgebung ein. Es geht darum, ein Abwehrinstrument in unseren handelspolitischen Werkzeugkasten aufzunehmen.
Derzeit wird über neue Russlandsanktionen verhandelt. Sollten sich diese Ihrer Ansicht nach auch gegen den russischen Energiesektor und das Finanzsystem richten?
Ich will darüber an dieser Stelle nicht spekulieren. Die Gespräche laufen derzeit noch.
Zurück zur Sanktionsabwehr. Wie genau sieht das Verfahren aus, um Erpressungsversuchen zu ahnden?
Im ersten Schritt würden wir uns ansehen, welche Beschwerden von Mitgliedstaaten, europäischen Wirtschaftsverbänden oder einzelnen Unternehmen gegen bestimmte Handlungen anderer Länder vorgebracht werden. Wenn wir zu dem Schluss kämen, dass ein Nötigungsversuch vorliegt, würden wir mit dem betreffenden Land in Dialog treten. Führt dieser Dialog zu keinem Ergebnis, würden Gegenmaßnahmen vorschlagen – erst dann.
Die französische Regierung hat schon verkündet, dass sie die Initiative der Kommission unterstützt. Erwarten Sie, dass Paris die Sanktionsabwehr auf die Agenda der französischen Ratspräsidentschaft setzt, die im Januar beginnt?
Wir stehen bereits mit den Franzosen im Kontakt. Sie unterstützen unseren Vorschlag sehr und wollen ihn zu einer ihrer Prioritäten machen. Es gibt auch im EU-Parlament die klare Erwartung, dass wir das Downside angehen. Deshalb hoffe ich darauf, dass es uns gelingt, den Gesetzgebungsprozess recht schnell abzuschließen.
Allerdings gibt es im europäischen Rat Widerstand von Ländern wie Schweden, die sich dem Freihandel besonders verpflichtet fühlen.
Daher betonen wir auch, dass es sich bei unserem Vorschlag um ein defensives Instrument handelt, das nur in bestimmten Fällen zur Anwendung kommen soll. Wir erwarten zudem, dass das Instrument abschreckende Wirkung haben wird. Das Ziel ist es nicht, neue Handelskonflikte zu schüren, sondern im Gegenteil, eine State of affairs zu schaffen, in der Drittstaaten von Versuchen absehen, die EU zu erpressen – weil sie wissen, dass wir auf so etwas schnell und effektiv reagieren können.
Wie sieht es in Fällen wie der Ostseepipeline Nord Stream 2 aus, wo die USA mit Sanktionen drohen – allerdings auch mit dem erklärten Ziel, die Einhaltung von europäischen Energiegesetzen durch den russischen Staatskonzern Gazprom zu erzwingen.
Das ist ein sehr komplexer und noch recht theoretischer Fall, daher kann ich darauf nicht im Element eingehen. Aber zu Nord Stream 2 kann ich sagen: Die Pipeline steht nicht im Einklang mit den Zielen der europäischen Energiepolitik.
Mehr: EuGH: Kürzung von Finanzmitteln aus dem EU-Funds bei Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit rechtens.