Moskau Wer versucht, erfolgreiche Anlagen nach Russland zu exportieren, kann mitunter schon an einer einfachen Stahltreppe scheitern. Denn Stahltreppe ist nicht gleich Stahltreppe. Die Anforderungen der deutschen Industrienorm (DIN) und des russischen Requirements GOST unterscheiden sich, bei den Abmaßen der Stufen etwa oder der Maximalhöhe der Treppe. Auch das Treppengeländer muss in Russland höher sein als in Deutschland.
„Jeder, der eine Stahlkonstruktion designt, muss praktisch zweimal designen, einmal nach europäischer Norm, das andere Mal nach russischer Norm. Und dann muss er das in Russland noch einmal bestätigen lassen“, sagt Thomas Krause. Der Chemnitzer kennt den russischen Markt genau, ist seit 14 Jahren dort tätig. Seine Alpha Consulting berät große Maschinenbauer wie McDermott, Siemens oder MAN bei Projekten in Russland.
Nun kommt ein weiteres Hindernis hinzu, das alle europäischen Unternehmen trifft, die in Russland Fuß fassen wollen: die wachsende Konkurrenz aus China. Das Land versucht zunehmend, eigene Normen durchzudrücken und damit den Zugang für Europäer weiter zu erschweren.
In den internationalen Normengremien besetzt China mittlerweile verstärkt die Sekretariate technischer Komitees, um eigene Technologien als internationalen Normal durchzusetzen und somit heimischen Unternehmen Vorteile zu verschaffen.
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„Wir waren schon in Sitzungen, wo wir mit vier, fünf internationalen Kollegen 20 chinesischen Experten gegenübersaßen, die einen fertigen Normenentwurf präsentierten“, berichtet Benjamin Oppermann, Leiter Normung & Standardisierung bei SMS Group. Er führt als Chairman die europäischen Normenkomitees für metallurgische Anlagen.
Zehn Prozent der Investitionen gehen für Standardisierung drauf
Der Kampf um die Norm ist kein Wunder: Russland ist einer der wichtigsten Märkte – auch für die deutsche Industrie. Doch unterschiedliche Requirements und Normen sind eins der größten Hindernisse beim Markteinstieg, gerade für Klein- und Mittelständler.
Wer eine Schaltanlage in den von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsraum (EAWU) exportieren will, muss 10.000 bis 15.000 Euro für Prüfungen und Zertifizierungen ausgeben. „Die Schaltanlagen haben aber meist nur einen Warenwert zwischen 1.000 und 4.000 Euro – damit ist der Markt für Mittelständler hier zu“, rechnet Krause vor.
Was für kleine Firmen den Marktausschluss bedeutet, verursacht auch großen Konzernen erheblichen Aufwand. Die SMS Group liefert Anlagen für die Stahl- und Eisenerzeugung nach Russland. Auf rund zehn Prozent des Auftragsvolumens beziffert Benjamin Oppermann die Kosten für Prüfung und Zertifizierung der Waren. Ein branchenüblicher Wert für die Kosten der Standardisierung – und bei Margen von etwa 15 Prozent durchaus schmerzhaft.
Es gibt noch weitere Risiken: Rohrleitungen, die SMS liefert, müssen nach einem russischen System berechnet werden. „Das darf nur jemand, der in Russland dafür auch zugelassen ist“, sagt Oppermann. SMS muss daher externe Firmen hinzuziehen, die die Berechnungen durchführen. „Das ist immer ein Spagat: Wie viel geben Sie heraus, damit Sie das Produkt dann am Ende auch noch selber bauen können und nicht jeder weiß, wie Sie die Rohrleitung auslegen und welche Materialien Sie nehmen“, so Oppermann.
Russen ergeht es in Westeuropa nicht besser
Dabei haben die Russen mit den gleichen Problemen zu kämpfen, wenn sie nach Westeuropa wollen. Auch hier sind die Markteintrittshürden wegen der dissonanten Normen hoch. 2018 haben daher der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft und der Russische Unternehmer- und Industriellenverband, RSPP, die deutsch-russische Initiative zur Harmonisierung der technischen Reglements gestartet.
Herausgekommen ist ein gemeinsames Arbeitspapier mit Empfehlungen zur Normenangleichung. Unter anderem soll Russland das Glossar zu Industrie 4.0 übernehmen. Mehr als nur ein Stück Papier, ist Krause sicher. Durch die Beteiligung des RSPP habe die Initiative mächtige Lobbywirkung.
„Der Prozess ist angeschoben“, die zuständigen Behörden seien am Harmonisierungsprozess beteiligt, bestätigt Oppermann.
Als Erstes soll die gegenseitige Anerkennung von Prüfprotokollen und Laboratorien durchgewunken werden. Dann gilt ein TÜV auch in Russland. Allein das könnte der deutschen Wirtschaft einen dreistelligen Millionenbetrag einsparen. Bis zur vollständigen Angleichung der Normen werden aber noch ein paar Jahre vergehen.
China drückt aufs Tempo
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, denn China lobbyiert ebenfalls eigene Requirements. Peking hat bereits vor einiger Zeit erkannt: Wer die Norm hat, hat auch den Markt. Über das Seidenstraßenprogramm finanzieren die Chinesen zudem große Infrastrukturprojekte und treiben nebenbei auch die Nutzung eigener technischer Requirements in den Nachbarländern voran.
Wenn Chinesen sich an Projekten in Russland beteiligen, forcieren sie ebenfalls eigene Requirements. Zulieferer aus der EU seien dann schnell raus, weil sie bei solchen Projekten dann oft dreifach zertifizieren müssen, sagt Krause.
Im Dezember veröffentlichte eine russisch-chinesische Kommission ihr Konzept zur Harmonisierung der Requirements im Luftfahrtbereich. Experten schätzen das Dokument, das sich hauptsächlich mit Fragen der Akustik im Cockpit und in den Passagierkabinen befasst, noch als relativ inhaltsleer ein. „Aber der Fakt des Drucks aus China ist natürlich unbestreitbar“, räumt Krause ein.
Einer der schärfsten Wettkämpfe zwischen Europäern und Chinesen ging unlängst in die Verlängerung: Kremlchef Wladimir Putin wollte sich eine Hochgeschwindigkeitsstrecke von Moskau nach Kasan bauen lassen. Siemens, mit seinem ICE-Pendant „Sapsan“ auf der Strecke Moskau–St. Petersburg schon sehr erfolgreich, conflict interessiert – und auch zum Technologietransfer nach Russland bereit.
Doch plötzlich hatte die chinesische Bahn das Projekt. Peking bot Moskau an, den Bau komplett mit Krediten zu finanzieren. Im Gegenzug sollte die Strecke allein mit chinesischer Technologie errichtet werden. Siemens wäre damit aus dem Geschäft gewesen. Auch für Folgegeschäfte wären die Chancen dann minimal.
Nur die Wirtschaftsflaute in Russland bescherte Siemens eine zweite Probability. Das Projekt Moskau–Kasan wurde vorläufig abgeblasen, weil es sich nicht rechnet. Stattdessen soll die russische Bahn die Rentabilität einer Highspeedtrasse nach St. Petersburg noch einmal neu berechnen. Ob sich Siemens hier gegen die chinesische Bahn durchsetzen kann, bleibt abzuwarten.
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