Istanbul, Ankara Tahir Devrim betrieb jahrelang in Istanbul ein Restaurant für Cig Köfte, eine Artwork Gemüsefrikadelle. Anfang Februar musste er das Geschäft schließen. An die Schaufensterscheibe hat er einen Zettel geklebt, darauf steht in großen Lettern: „Uns hat nicht Covid-19 erwischt, sondern unsere Stromrechnung!“ Daneben hängt eine Kopie des Stromzählers mit einem vierstelligen Rechnungsbetrag für den Januar.
Ein Schicksal, das derzeit vor allem Kleinbetriebe in der Türkei trifft. Schuld ist eine von der Regierung in Ankara veranlasste Erhöhung der Strompreise zum Jahreswechsel von bis zu 100 Prozent professional Stromkunde.
Im ganzen Land kommt es zu Protesten. In Izmir gingen am Mittwoch Rentnerinnen und Rentner auf die Straße, am Donnerstag zogen Demonstranten durch die Straßen von Istanbul.
Auch Prominente äußern sich zu der nicht enden wollenden Teuerung, etwa der berühmte Komiker Cem Yilmaz. „Wer nichts von den ständig höheren Lebenshaltungskosten spürt, ist entweder ein Dieb oder völlig verrückt.“
Die Angestellten des Telekommunikationskonzerns Digitürk protestierten Anfang der Woche. Sie hatten von ihrem Arbeitgeber 17 Prozent Lohnerhöhung erhalten – doch es reichte ihnen nicht.
„Wir haben einen Stromschlag erhalten“
Alle sind betroffen: Konsumenten, Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Rentner. „Wir haben einen Stromschlag erhalten und müssen schließen“, hat ein Ladenbesitzer auf die heruntergelassenen Rollläden seines Geschäfts für Telekommunikationsprodukte geschrieben. Darunter zwei Kopien der Stromrechnungen von Januar 2021 und Januar 2022. Bei etwa gleichem Verbrauch liegt der Preis der älteren Stromrechnung bei 317 Lira, ein Jahr später bei 631 Lira.
Die Inflation in der Türkei grassiert. Offiziell beträgt die Teuerungsrate im Januar laut Statistikamt 48,69 Prozent, nach 36 Prozent im Dezember und 21,3 Prozent im November. Bis April erwartet selbst der neue Finanzminister Nureddin Nebati keine Änderung.
Die Lira hatte im vierten Quartal des vergangenen Jahres quick die Hälfte ihres Wertes verloren. Das hatte Importpreise für Rohstoffe, etwa Rohöl und Gasoline, in die Höhe getrieben. Das sorgte jetzt dafür, dass grundsätzlich alles teurer wird und die wirtschaftliche Erholung in Gefahr gerät.
Wenn ein Restaurantbesitzer mehr für die Stromrechnung bezahlen muss, erhöht er die Preise für seine Produkte. Wenn dann auch noch die Kunden ausbleiben, weil sie sich die Gerichte nicht mehr leisten können, muss er schließen. Ein Phänomen, das sich derzeit durch den gesamten türkischen Wirtschaftskreislauf zieht.
Die städtische Wassergesellschaft der Ägäis-Metropole Izmir, Izsu, zahlte im vergangenen Jahr 337 Millionen türkische Lira für Strom. Für 2022 rechnet das Unternehmen mit 800 Millionen Lira.
Selbst in Hakkari, im entfernten Südosten des Landes an der Grenze zu Iran und Irak, wo Obst und Gemüse meist von Lieferwagen in die Dörfer gebracht werden, steigen die Preise. Gurken kosten dort jetzt 25 Lira professional Kilo, nach rund 7 Lira vor einem Jahr. Der Preis für Auberginen hat sich auf 29 Lira verdoppelt, der von grüner Paprika auf 28 Lira quick verdreifacht.
Schuld sind die gestiegenen Preise für Benzin und Diesel sowie die schwache Ernte im Frühjahr. „Wir können nichts machen“, erklärt ein Lieferant, „wir müssen mehr an der Tankstelle und auch noch auf dem Großmarkt bezahlen.“
Weil viele Menschen Angst vor weiteren Preiserhöhungen haben, kommt es immer häufiger zu Panikeinkäufen. Der Umfrage eines lokalen Instituts zufolge haben zwei Drittel der Befragten Produkte auf Lager eingekauft, um einer Preiserhöhung zuvorzukommen.
Die Regierung hatte dem Lira-Fall zu lange zugeschaut, bis sie zu einer unkonventionellen Maßnahme griff. Staatschef Recep Tayyip Erdogan versprach, dass Lira-Sparverträge auf türkischen Konten bei Fälligkeit nach dem aktuellen Devisenwechselkurs ausgezahlt werden. Das sollte Sparer davon abhalten, ihr Geld in Greenback und Euro anzulegen, was dem Lira-Kurs sonst noch mehr geschadet hätte.
Die Lira-Krise ist gestoppt, aber die Preise steigen weiter
In der Tat ist die Lira seitdem stabil. Doch die Preise steigen trotzdem weiter. Ein Bäcker in der Hauptstadt Ankara entschuldigt sich dafür öffentlich bei seinen Kunden. „Wir schämen uns, aber wir können die ständigen Preissteigerungen für die Herstellung unserer Produkte nicht mehr stemmen.“
In einem kleinen Supermarkt nicht weit von jenem Bäcker entfernt sehen Kundinnen als Erstes ein selbst geschriebenes Plakat: „Bitte streiten Sie nicht mit mir über die Preiserhöhungen. Ich bin nicht dafür verantwortlich.“
Die Opposition reagiert gereizt auf die Preiserhöhungen und schlachtet das Thema aus. Der Chef der republikanischen Volkspartei CHP, Kemal Kiliçdaroğlu, rief über Twitter zu zivilem Ungehorsam auf.
„Ich werde meine Stromrechnung nicht mehr bezahlen, bis Erdogan seine Preiserhöhung zurücknimmt“, schrieb er und forderte die Bevölkerung auf, es ihm gleichzutun. „Nur gemeinsam können wir diese Grausamkeit beenden.“
Die Chefin der nationalistischen Iyi-Partei, Meral Aksener, zieht Vergleiche mit der türkischen Finanzkrise im Jahr 2001. Eine deutliche Anspielung, denn ein Jahr später waren Türkinnen und Türken von den Folgen sowie dem schlechten Krisenmanagement derart verärgert, dass sie bei den Parlamentswahlen den Oppositionskandidaten gewählt hatten: Recep Tayyip Erdogan.
„Die aktuelle Krise ist noch viel größer“, glaubt Aksener, die bisher noch kein eigenes Programm für eine Wirtschaftspolitik aufgelegt hat, „und sie wird als Erdogan-Krise in die Geschichte eingehen.“