Brüssel Der Aufruhr um die „grüne“ Taxonomie der EU-Kommission, ein Klassifizierungssystem für den Finanzmarkt, hat sich noch nicht gelegt. Trotzdem laufen in Brüssel schon die Vorbereitungen für ein Projekt mit nicht minder großer Brisanz: die „soziale“ Taxonomie. Das Vorhaben zielt darauf ab, neben der Klima- auch die Sozialverträglichkeit von Investitionen zu bewerten.
Das soll privates Kapital dorthin lenken, wo es den größten Nutzen für Mensch und Natur entfaltet. Kritiker sehen darin einen Versuch, die Wirtschaft in intestine und schlecht zu unterteilen – und fürchten schwere Wettbewerbsnachteile für die europäische Industrie.
Ein Expertengremium, die „Plattform für Nachhaltige Finanzierung“, hat im Auftrag der EU einen Bericht zur sozialen Taxonomie erstellt. Das als „vertraulich“ eingestufte Dokument liegt dem Handelsblatt vor.
In der „hohen Nachfrage“ nach Anleihen zur Finanzierung von Sozialwohnungen oder Gesundheitsprojekten sehen die Autoren ein klares Zeichen dafür, dass „Investoren soziale Investitionen als Likelihood sehen und dass privates Kapital in sozial wertvolle Aktivitäten gelenkt werden kann“.
Das klingt unstrittig, doch die soziale Taxonomie verursacht in einzelnen Branchen große Nervosität. Insbesondere Rüstungskonzerne fürchten, dass sich ihre Kreditkosten erheblich verteuern.
Negativliste für schädliche Aktivitäten
Denn die EU-Experten wollen neben einer Positivliste für sozial nützliche Investitionen auch eine Negativliste für sozial schädliche Aktivitäten erstellen. Zu Letzteren sollen den Plänen zufolge nicht nur worldwide geächtete Waffensysteme wie Giftgas, Anti-Personen-Minen und Streubomben zählen.
Auch „Investitionen in andere Rüstungsgüter, die etwa einfach von Kindersoldaten eingesetzt werden können oder in Konfliktgebiete exportiert werden“, könnten „als sozial schädlich angesehen werden“, schreiben die Experten. Dieser Passus lässt eine sehr breite Auslegung zu – und könnte dazu führen, dass alle möglichen Rüstungsfirmen Finanzierungsschwierigkeiten bekommen.
„Diese Unbestimmtheit ist problematisch“, bestätigt Matthias Wachter, Verteidigungsexperte beim Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). „Sie lässt ein hohes Maß an Interpretationsfähigkeit zu und damit auch eine gewisse Willkür.“
Aus Sicht des BDI sei eine Einstufung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie als „sozialschädlich“ nur für die von den Vereinten Nationen geächteten Waffen gerechtfertigt. Grundsätzlich sollte die Branche dagegen auf die Positivliste der Taxonomie aufgenommen werden, um „am Kapitalmarkt nicht benachteiligt“ zu werden, argumentiert Wachter. Dies sei gerechtfertigt, da die Industrie „einen Betrag dazu leistet, Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa zu sichern“.
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Noch handelt es sich bei den Formulierungen im Taxonomie-Bericht um Vorschläge, nicht um einen offiziellen Beschluss. Die Erfahrung mit der „grünen“ Taxonomie zeigt aber, dass der Enter der Experten richtungsweisend ist.
Nächster Taxonomie-Streit steht bevor
Zuletzt hatte die EU-Kommission entschieden, Erdgas und Kernkraft unter bestimmten Bedingungen als nachhaltig einzustufen. Ein Schritt, der heftige Kritik von Umweltschützern und schwere Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten hervorrief.
EU-Kommission stuft Atomkraft und Erdgas als nachhaltig ein
Nun steht der nächste Taxonomie-Streit an. Wenn die EU nach Fuel und Atom auch Rüstung als nachhaltig deklariert, dürfte vor allem bei Friedensinitiativen ein Proteststurm losbrechen. Die Kommission befindet sich in einem Dilemma.
Gerade die deutsche Rüstungsindustrie wird von den Brüsseler Entscheidungen betroffen sein, da sie sich in privater Hand befindet. Unternehmen wie Rheinmetall, Diehl und Thyssen-Krupp Marine Methods müssen sich am Markt behaupten. Das gilt in anderen EU-Ländern nur eingeschränkt. An wichtigen französischen Waffenherstellern wie der Naval und der Thales Group etwa ist der Staat beteiligt.
Schon jetzt haben sich die Finanzierungsbedingungen deutscher Rüstungsfirmen verschlechtert, wie die Industrie warnt. Einige Banken meiden Unternehmen, die mehr als 20 Prozent ihrer Erlöse mit Waffengeschäften erzielen. Das schmälert die Wettbewerbsfähigkeit der Branche.
Gerade in einer Zeit, in der die Kriegsgefahr in Europa gestiegen ist, schüren die Brüsseler Pläne erhebliche Unsicherheit. Auch die Kommission gelangt zu der Einschätzung, dass sich das Sicherheitsumfeld der EU erheblich verschlechtert hat. Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte vergangene Woche im Interview mit dem Handelsblatt: „Wir erleben einen Aufmarsch russischer Truppen rund um die Ukraine, wie es ihn seit 70 Jahren nicht gegeben hat.“
„Subjektive Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit“
Völlig unklar ist zudem, wie die Kommission die soziale Taxonomie mit der Imaginative and prescient einer europäischen „Verteidigungsunion“ in Einklang bringen will, die von der Leyen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorantreibt.
Der Europaabgeordnete Markus Ferber (CSU) mahnt: „Wenn man sich das derzeitige Drama um die ‚grüne‘ Taxonomie anschaut, wären die Kommission und die Plattform für nachhaltige Finanzierung intestine beraten, nicht direkt das nächste Fass aufzumachen.“
Bei der „grünen“ Taxonomie hätten zumindest „objektive wissenschaftliche Kriterien“ herangezogen werden können. Nun gehe es um „subjektive Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit“ – damit sei noch mehr Streit programmiert.
Für Ferber steht fest: „Sozialpolitische Fragen sollten über die Sozialpolitik gelöst werden und nicht über Finanzmarktregulierung. Neue Klassifizierungssysteme schaffen nur neue Berichtspflichten und Bürokratie, aber keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.“
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