Berlin Wie tickt Putin unter Stress? Im Scenario Room, dem Krisenzentrum im Weißen Haus, brüten die Berater des amerikanischen Präsidenten seit Tagen darüber, wie der von harten Wirtschaftssanktionen in die Enge getriebene russische Präsident jetzt zurückschlagen wird. Insbesondere, nachdem Wladimir Putin am Wochenende drohte, die Strafmaßnahmen des Westens seien für ihn „wie eine Kriegserklärung“.
Zu den denkbaren Vergeltungsmaßnahmen des Kremlchefs zählen die Krisenmanager einen Cyberangriff auf das westliche Finanzsystem. Die größere Gefahr könnte jedoch drohen, wenn Putins Cyberkrieger die nukleare Abschreckung unterlaufen.
Bislang hat Putin seine Cyberwaffen vor allem zur Verbreitung von Propaganda eingesetzt. Nur am Tag, bevor russische Panzer erstmals über die ukrainische Grenze rollten, entdeckte Microsoft eine „Wiper malware“, mit dem russische Hacker offenbar versuchen wollten, die Laptop der ukrainischen Regierung lahmzulegen.
Ansonsten ist es relativ ruhig an der Cyberfront – was viele Experten überrascht hat: Gilt Russland doch als eine der cleversten und aggressivsten Cybermächte überhaupt, und Putin ist ein Fan der hybriden Kriegsführung an virtuellen und realen Fronten.
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Viele der größten Cyberangriffe der vergangenen Jahre – vom Einsatz des NotPetya-Virus in der Ukraine 2017 über die SolarWinds-Attacke 2020 bis hin zum digitalen Anschlag auf die wichtigste US-Benzinpipeline Colonial im vergangenen Jahr – werden russischen Hackern zugeschrieben. Nach Angaben von Microsoft gingen im vergangenen Jahr mehr als die Hälfte aller von dem Konzern registrierten staatlichen Hackerangriffe von Russland aus.
Dabei verwischen oft die Grenzen zwischen kriminellen Banden und Cyberkriegern im Auftrag des Kremls. So sollen die Elite-Hacker der russischen Gruppe Sandworm im Dienst von Moskaus militärischem Geheimdienst GRU. stehen. Außerdem befürchten US-Fachleute, dass russische Hacker sogenannte „Sleeper Codes“ in der Software program westlicher Infrastruktureinrichtungen wie Stromnetzen installiert haben, die mit einem Angriffssignal geweckt werden könnten.
„Man könnte sich eine sehr schnelle Eskalation vorstellen, die als Angriff auf die NATO angesehen werden könnte“, warnt der amerikanische Senator Mark Warner. Tatsächlich hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zuletzt 2019 betont, dass „ein schwerwiegender Cyberangriff“ den Beistandsartikel 5 des Bündnisses auslösen könnte, wonach ein Angriff gegen einen Verbündeten als Angriff auf alle behandelt wird.
Im ersten Kalten Krieg sollte bekanntlich die nukleare Abschreckung eine Eskalation zwischen den Großmächten verhindern. Die dahinterstehende Strategie wurde allerdings vom US-Diplomaten George F. Kennan schon in den 1940er-Jahren erdacht.
Damals gab es weder das Web noch Cyberwaffen, die billig, einfach zu leugnen und schwer zu kontrollieren sind. Viele glauben, dass nicht ein Nuklearkrieg, sondern ein „Cyber Conflict“ zwischen den Großmächten die größte Bedrohung des 21. Jahrhunderts sei.
Tatsächlich ist es die Kombination von beidem. „Mit dem Aufkommen von Cyberangriffen auf Kommando- und Kontrollsysteme, von Laserangriffen auf Satelliten und mit autonomen Waffensystemen haben sich ganz neue Probleme ergeben“, warnt der Harvard-Gelehrte Joseph Nye. Der ehemalige Vizeverteidigungsminister der USA weist auf die oft unterschätzte Gefahr hin, dass Cyberattacken das Risiko eines Nuklearkrieges potenzieren können.
Noch zehn Minuten, um die Welt zu retten
Wie, das konnte ich vor einigen Jahren am eigenen Leib erfahren, als mich International Zero, eine internationale Organisation für die Abschaffung von Nuklearwaffen, zu einer Digital-Actuality (VR)-Simulation einlud.
Ich sollte im nachgestellten Scenario Room in der Rolle des US-Präsidenten einen vermeintlich russischen Angriff mit Nuklearwaffen abwehren – und hatte dafür zehn Minuten Zeit. Vor mir lagen drei Handlungsoptionen, die sich nur dadurch unterschieden, dass die prognostizierten Opferzahlen um zig Millionen Menschenleben schwankten. „Wir haben neue Informationen“, rief mir ein Normal von einem Videoschirm kurz vor Ablauf der nuklearen Galgenfrist zu, „es hat heute Nacht eine Cyberattacke gegeben. Wir können additionally nicht mehr hundert Prozent sicher sein, dass der Nuklearangriff überhaupt stattfindet.“ Was tun?
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