Vier Jahre nach dem ersten Corona-Lockdown sind die Rufe nach Aufarbeitung so laut wie nie. t-online hat führende Politiker aus der Pandemiezeit gefragt: Was waren die größten Fehler?
Zwei Jahre Ausnahmezustand: Das Coronavirus brachte ab Anfang 2020 nie dagewesene Ängste, Diskussionen und Einschränkungen. Vor allem zu Beginn der Pandemie gab es Horrorszenarien und Warnungen vor einem Massensterben. Im italienischen Bergamo wurden Leichen in Lastern abtransportiert, in Indien rangen Menschen vor überfüllten Krankenhäusern um Luft.
Die Politik agierte unter enormem Druck, kam zu Nachtsitzungen zusammen, diskutierte heftig, zählte Krankenhausbetten, Personal und Infektionszahlen. Sie verabschiedete Maßnahmen im Akkord, schloss Schulen und Betriebe, verordnete Abstandsregeln, Maskenpflicht, Kontakt-, Versammlungs- und Zutrittsverbote. Grundrechte wurden aufgegeben, in der Hoffnung, Leben zu retten.
„Wir werden einander viel verzeihen müssen“, sagte der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) früh im Bundestag. Nun, rund vier Jahre nach Beginn des ersten Lockdowns, sind die Rufe nach Aufarbeitung so groß wie nie.
Was aber gibt es zu verzeihen? t-online hat führende Politiker und Wissenschaftler gefragt: Was waren die größten Fehler der Politik in der Pandemie?
Michael Kretschmer: „Auf dramatische Weise falsch entwickelt“
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) saß in der Pandemie in den Bund-Länder-Konferenzen. Dem Gremium, das die Corona-Maßnahmen maßgeblich bestimmte. Kritiker demonstrierten vor seinem Privathaus, Kretschmer stellte sich nicht nur dort dem Gespräch. Er sagt:
„Ich bin von anderen Parteien so beschimpft worden, als ich während der Corona-Zeit das Gespräch mit kritischen Menschen gesucht habe. Mir war klar, in einer Demokratie kann es nicht nur eine Meinung geben. Differenziert und wertschätzend zu argumentieren war auch in dieser Zeit sehr wichtig, aber leider nicht jedem gegeben.
Je länger die Schutzmaßnahmen dauerten, umso falscher wurden sie. Die sektorale Impfpflicht war gut gemeint, aber hatte sich auf dramatische Weise falsch entwickelt. Als das zu Beginn des Jahres 2022 klar war und wir den neuen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach darum gebeten haben, sie gemeinsam abzuschaffen, hat dieser sich verweigert. Ich war damals fassungslos über den Starrsinn und die Weigerung, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen.
Sehr nachdenklich hat mich eine Diskussion der Schriftstellerin Juli Zeh und des Verfassungsrichters Hans-Jürgen Papier über die Grundrechtseingriffe und das Schweigen des Bundesverfassungsgerichts gemacht. Wir müssen zumindest aus dieser Zeit lernen, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt und wir ein mutiges Verfassungsgericht brauchen, das Grenzen setzt.“
Stephan Weil: „Das hat niemandem geholfen“
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) regiert das Land seit elf Jahren. Sein Stil gilt als ruhig und unaufgeregt. Die Corona-Maßnahmen aber brachten Bürger gegen ihn auf, die Polizei schützte sein Wohnhaus im April 2021 vor Demonstranten. Er sagt:
„Grundsätzlich ist es gerade am Anfang der Pandemie gelungen, durch einen konsequenten Infektionsschutz die Zahl der Todesopfer zu begrenzen. Die genaue Zahl wird sich leider naturgemäß niemals genau feststellen lassen. Gut war im Umgang mit der Corona-Pandemie insbesondere auch die enge Kooperation mit der Wissenschaft, die vergleichsweise gute Impforganisation mit entsprechend hohen Impfquoten sowie die Sicherstellung der medizinischen Versorgung schwerkranker Corona-Patientinnen und Patienten.
Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sind dagegen nicht hinreichend berücksichtigt worden, das zeigen mittlerweile diverse Studien. Auch dass viele alte und kranke Menschen während der Corona-Hochphasen unter Einsamkeit gelitten haben oder bisweilen sogar alleine sterben mussten, macht betroffen. Schließlich: Dass die Corona-Regeln von Land zu Land unterschiedlich waren, hat unter dem Strich niemandem geholfen.“