Kommt die Wehrpflicht in Deutschland zurück? Im Interview erklärt der Vater der schwedischen Wehrpflicht die Vorzüge des Modells – und was die Deutschen daran falsch verstehen.
Seit Wochen diskutiert Deutschland über die Wehrpflicht. Darf man jungen Menschen ein Lebensjahr nehmen, um die Personalprobleme der Bundeswehr zu lösen? Oder muss die Truppe einfach attraktiver werden, um mehr Freiwillige zum Dienst an der Waffe zu bewegen? Bislang stehen sich die Lager unversöhnlich gegenüber. Die Debatte verläuft auch quer durch die Ampel: Während Finanzminister Christian Lindner (FDP) von einer „Gespensterdiskussion“ spricht, fordert Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), eine Wiedereinführung zu prüfen.
Klar ist dabei allen Beteiligten: Die alte Wehrpflicht wird nicht zurückkommen. Die Infrastruktur der Bundeswehr ist nicht dafür ausgelegt, jedes Jahr Zehntausende neue Rekruten aufzufangen. Im Zentrum der Debatte steht daher das „schwedische Modell“, das auf Freiwilligkeit setzt.
Peter Hultqvist ist der Vater der schwedischen Wehrpflicht: Als Verteidigungsminister reaktivierte Hultqvist 2017 die Wehrpflicht in Schweden, wie in Deutschland war sie nur ausgesetzt. Mit t-online spricht der Sozialdemokrat über die Vorteile des schwedischen Modells, welche Fehler er heute vermeiden würde – und was er Deutschland rät.
t-online: Herr Hultqvist, Sie haben 2017 als schwedischer Verteidigungsminister die Wehrpflicht zurückgebracht. Wie schwierig war das?
Peter Hultqvist: Das war nicht besonders schwer. Für uns war klar: Russland ist eine langfristige Bedrohung für uns. Wir haben beobachtet, wie die Russen ihre militärischen Kapazitäten über viele Jahre systematisch aufgebaut haben. Die Putin-Clique im Kreml zeigte zudem immer offener ihr imperialistisches Weltbild. Spätestens seit der Krim-Annexion 2014 wurde uns bewusst, dass Schweden seine Streitkräfte massiv aufrüsten muss. Zugleich wussten wir: Ohne Wehrpflicht wird es nicht gehen.
Wie nahm die schwedische Öffentlichkeit die Pläne auf, die Wehrpflicht wieder einzuführen?
Zum Glück sind die Schweden traditionell positiv gegenüber ihrem Militär eingestellt. Als wir 2017 beschlossen, die Wehrpflicht zu reaktivieren, hatten wir politisch also leichtes Spiel. Die meisten Schweden waren dafür, wir mussten wenig Überzeugungsarbeit leisten.
Was war das strategische Kalkül hinter dem Schritt?
Vor 2015 setzte die schwedische Verteidigungsstrategie hauptsächlich auf internationale Einsätze. Das war damals der europäische Standard, bei der deutschen Bundeswehr war es nicht anders. Aber im Gegensatz zu Deutschland reagierten wir nach der russischen Krim-Annexion recht schnell: Wir passten unsere Sicherheitsstrategie den veränderten Bedingungen in Europa an und machten uns klar: Wir könnten bald Krieg mit Russland haben. Oberste Priorität war also die Modernisierung der schwedischen Streitkräfte. Es herrschte Konsens in allen politischen Lagern, dass wir das ohne eine Wehrpflicht nicht hinbekommen würden.
In Deutschland fordern immer mehr Politiker, das schwedische Modell zu übernehmen. Als einer der Vorzüge wird die Freiwilligkeit betont. Aber wie freiwillig ist das schwedische System wirklich?
Ich kenne die Diskussion in Deutschland, aber am Ende des Tages ist auch die schwedische Wehrpflicht eine Pflicht. Wir haben rund 80.000 junge Menschen pro Jahrgang, die sich mustern lassen müssen und von denen wir nur knapp zehn Prozent jährlich einziehen. Insofern gibt es durchaus ein Element der Freiwilligkeit. Aber das Gesetz ist sehr eindeutig: Es ist eine staatliche Pflicht, den Dienst abzuleisten. Ein Teil der Menschen wird also gezwungen. Wenn wir künftig die Zahl der jährlichen Rekruten erhöhen, wird das noch deutlicher werden.
Wie hoch ist der Anteil der Freiwilligen und derjenigen, die zum Dienst gezwungen werden?
Das wissen wir nicht genau, solche Zahlen erheben wir auch nicht. Es gibt viele Leute, die sehr motiviert sind und aus eigenem Antrieb in den Streitkräften dienen. Andere werden gegen ihren Willen eingezogen, anders funktioniert das System nicht.
Gibt es viel Kritik daran?
Für die Schweden ist die Frage der Freiwilligkeit nicht so wichtig wie für euch Deutsche. Die meisten sehen die Notwendigkeit, dass wir eine Armee brauchen, die das Land im Kriegsfall schützen kann. Viele Wehrpflichtige bleiben zudem nach der Grundausbildung in den Streitkräften, weil die Armee ein attraktiver Arbeitgeber geworden ist. Der Schlüssel dazu sind Investitionen in eine moderne Infrastruktur. Sonst gehen die Leute woanders hin.