Moskau Swetlana weint, das Smartphone presst sie mit Kraft ans rechte Ohr. „Wo hast Du Lena bloß hingelassen“, fragt sie mit tränenerstickter Stimme. Die State of affairs sei durch den „Scheißkrieg“ schon schrecklich genug. „Aber deswegen muss sie doch nicht auch gleich den Kopf verlieren und sich so in Gefahr begeben“, sagt die 45-jährige Russin zu ihrem Gesprächspartner.
Am anderen Ende der Leitung ist der Ehemann ihrer besten Freundin Lena. Der hatte Lena ziehen lassen, als sie sagte, sie wolle gegen Putin auf die Straße gehen. „Ich muss zeigen, dass es mir nicht gleichgültig ist, wir müssen die Botschaft verbreiten, dass die russische Bevölkerung keinen Krieg will“, hatte sie gesagt.
Sie versprach ihm noch, sich nicht in den Vordergrund zu drängen. Und sie beteuerte, sich nicht an Sprechchören zu beteiligen. Dann fiel die Tür ins Schloss.
Eine gefühlte Ewigkeit nach dem Krisentelefonat mit Swetlana dreht sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür um. Lena ist unversehrt wieder zu Hause, aber dennoch deprimiert: Zum Zentrum der Demonstration am Puschkin-Platz ist sie nicht vorgedrungen, weil sie Angst hatte, im Gedränge verhaftet zu werden.
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„Ich habe aber auch die Angst der anderen gesehen“, sagt sie. Wie groß die Furcht vor der Brutalität russischer Sicherheitskräfte sei, habe sich auch dadurch gezeigt, dass sich diesmal deutlich weniger Demonstranten aus der Deckung trauten als bei früheren Protestaktionen.
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Immerhin mehrere Tausend Menschen gingen russlandweit trotzdem auf die Straße, auch am Freitag wieder. In mehr als 40 Städten von Wladiwostok im Osten bis Kaliningrad im Westen protestierten die Bürger gegen den Krieg – teilweise in der bis heute eigentlich zulässigen Kind einer Einzelmahnwache, teils eben auch in größeren Gruppen.
Er hätte sogar noch weniger Demonstranten erwartet, sagt Ilja Jaschin, einer der letzten in Freiheit befindlichen liberalen Oppositionspolitiker. „Wer glaubt, dass in Kriegszeiten viele auf die Straße gehen, irrt, denn die Menschen haben einfach Angst.“
Tatsächlich haben die Verschärfung des Versammlungsrechts und die vielen Schauprozesse gegen Oppositionelle und Demonstranten in den letzten Jahren die Russen eingeschüchtert. Punkt 31 der russischen Verfassung gibt den Menschen das Recht auf Versammlungsfreiheit. Theoretisch. In der Praxis sieht das ganz anders aus.
Seit Jahren müssen Demonstrationen nicht nur angemeldet, sondern von der Obrigkeit auch genehmigt werden. Früher verhinderten die Behörden dann Demos oft damit, dass sie am beantragten Versammlungsort eine Gegenveranstaltung organisierten und genehmigten. Inzwischen werden kritische Veranstaltungen der Opposition pauschal mit dem Verweis auf Corona verboten – die bei Menschenaufläufen, die vom Kreml organisiert wurden, allerdings nicht gelten.
Auch in diesem Fall hatten Staatsanwaltschaft und Ermittlungskomitee bereits im Vorfeld mit strafrechtlichen Konsequenzen für die Teilnahme an ungenehmigten Demos gedroht.
Ich muss zeigen, dass es mir nicht gleichgültig ist, wir müssen die Botschaft verbreiten, dass die russische Bevölkerung keinen Krieg will. Demonstrantin Swetlana
Die Polizei nahm russlandweit rund 1500 Personen fest, allein in Moskau waren es rund 600. In einem Fall hat die Staatsanwaltschaft bereits ein Strafverfahren eröffnet. Eine junge Frau soll in Moskau einen Molotowcocktail in Richtung der Polizeibeamten geschleudert haben. Obwohl niemand zu Schaden kam, drohen ihr wegen Angriff gegen Vertreter der Staatsgewalt nun fünf Jahre Haft.
Der Angriff auf die Ukraine ist in der Bevölkerung nicht unumstritten. Obwohl eine deutliche Mehrheit der Russen die Separatisten im Donbass unterstützt, galt ein vollwertiger Krieg gegen das „Brudervolk“ bis vor Kurzem vielen als undenkbar.
Doch zumindest bislang stellen die Proteste keine ernsthafte Gefahr für Putin dar: Nach der Verschärfung des Versammlungsrechts fürchten viele Russen Repressionen.
Bei anderen setzt die russische Führung auf Gleichgültigkeit oder auf vaterländische Euphorie – hervorgerufen durch Propagandabilder. Bislang geht das Konzept auf: „Ich hätte die Ukraine nicht angegriffen“, sagt Barmann Alexander. Aber das sei nicht seine Angelegenheit, fügt er hinzu, zuckt die Schultern und wechselt das Thema.
Andere verteidigen den Überfall damit, dass die Bevölkerung im Donbass „sich acht Jahre lang im Keller vor Bombenangriffen der Ukrainer verstecken musste“. Jetzt sei es an den Ukrainern, sich zu fürchten.
Einige Prominente haben in Moskau ihre Stimme erhoben. Da sind die „üblichen Verdächtigen“ aus der liberalen Szene, etwa Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow von der „Nowaja Gaseta“, der populäre Blogger und Journalist Juri Dudj, der Rapper Oximoron und die Rocklegenden Boris Grebentschikow und Juri Schewtschuk. Und da sind einige mutige, zuvor unpolitische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, etwa die bekannten Entertainer Maxim Galkin und Iwan Urgant und Schauspielerin Tschulpan Chamatowa (in Deutschland bekannt durch ihre Rolle in „Good Bye Lenin“).
Eine Massenwirkung hat das nicht. Im Gegenteil: Die Chefin der regierungsnahen Organisation „Liga für sicheres Web“, Blo Jekaterina Misulina, ging auf den Blogger Dudj los. Die Tochter einer Duma-Abgeordneten forderte die Behörden auf, zu prüfen, ob der Künstler nicht aus dem Ausland finanziert werde und damit als „ausländischer Agent“ zu gelten habe.
Bislang spüren die Russen selbst auch noch kaum Konsequenzen des Einmarschs im Nachbarland. Es gab lange Schlangen an den Bankautomaten in Moskau, und die Preise für Elektronikwaren haben sich innerhalb eines Tages deutlich erhöht. In Aktien sind allerdings nur wenige Moskauer investiert, der huge Verfall der Börsenkurse lässt die meisten additionally kalt. Ändern dürfte sich die Lage wohl nur, wenn der erwartete Sieg sich verzögert und die Zahl der Gefallenen deutlich steigt. Das haben die Konflikte in Afghanistan und Tschetschenien gezeigt. Doch die derzeitige Lage in der Ukraine deutet kaum darauf hin, dass das Land noch lange Widerstand leisten kann.
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