Überlastete Praxen, drohender Kollaps: Der Hausärzteverband richtet einen weiteren Appell an den Gesundheitsminister und fordert Reformen. Doch wie ernst ist die Lage wirklich?
Besetzte Telefone, keine verfügbaren Termine, überfüllte Wartezimmer und überarbeitetes Personal: Dafür macht der Verband der Hausärztinnen und Hausärzte nicht nur die anhaltende Grippewelle, sondern auch das Gesundheitssystem und insbesondere Karl Lauterbach (SPD) verantwortlich.
Der Bundesgesundheitsminister habe vor mittlerweile knapp sechs Wochen zu Recht festgestellt, dass die hausärztliche Versorgung in der Krise stecke, und in diesem Zusammenhang eine Reihe an Maßnahmen zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung vorgestellt, heißt es in einem aktuellen Statement des Verbands. Doch „handfeste Gesetzesentwürfe sucht man nach wie vor vergebens“.
Hausärzte drängen Lauterbach zu Tempo bei Reformen
„Ankündigungen sind schön und gut. Vom Ankündigen allein wird aber niemand besser versorgt und keine Praxis entlastet“, so die Bundesvorsitzenden des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth und Dr. Markus Beier weiter. Die Zeit werde langsam knapp, die Praxen bräuchten dringend Hilfe im Kampf gegen den drohenden Kollaps. Denn „schon heute fehlen bundesweit knapp 5.000 Hausärztinnen und Hausärzte“. Und: Mit Blick auf die Altersstruktur müsse auch dem Letzten klar sein, dass sich die Situation in den kommenden Jahren extrem zuspitzen wird.
Gut zu wissen
Lauterbach hatte zu Jahresbeginn angekündigt, Arztpraxen durch die Streichung von Budgetdeckelungen und einen Abbau der Bürokratie zu entlasten. Die Erleichterungen und Verbesserungen würden zeitnah spürbar sein, hatte er damals betont.
Die Verbandsvorsitzenden sehen aber nicht nur Lauterbach in der Pflicht. Sie wenden sich an die gesamte Ampel-Koalition: „Beenden Sie die Hängepartie und lassen Sie Ihren Worten endlich Taten folgen“. Ansonsten werde die hausärztliche Versorgung, wie sie von Millionen Wählerinnen und Wählern geschätzt wird, immer mehr wegbrechen.
Ärztemangel in vielen Regionen spürbar
Was der Hausärzteverband gerade scharf kritisiert, ist für viele Patienten schon lange deutlich zu spüren: Sie müssen immer länger auf Termine warten, die Wartezeiten in den Praxen nehmen zu und für das Gespräch mit dem Arzt bleibt immer weniger Zeit. Vielerorts müssen Hausarztpraxen ohne Nachfolge schließen.
„Die Nachfrage nach hausärztlicher Versorgung steigt von Jahr zu Jahr, während gleichzeitig immer weniger Hausärztinnen und Hausärzte zur Verfügung stehen“, erklärte auch Hausärzte-Chef Dr. Markus Beier im Gespräch mit t-online Anfang Februar.
Tatsächlich bleibt nach Angaben der Bundesärztekammer das Wachstum der Zahl der Ärzte in Deutschland hinter den Erwartungen zurück.
Bericht der Bundesärztekammer (Stand 2022)
Die Zahl der berufstätigen Ärzte ist im Jahr 2022 geringfügig um 1,2 Prozent auf rund 421.000 gestiegen. Der Anteil an Hausärzten sinkt jedoch kontinuierlich.
Hinzu kommt: Ein großer Teil der Ärzteschaft wird in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen. 2022 hatte fast die Hälfe aller Ärzte (46 Prozent) das 50. Lebensjahr überschritten. 28 Prozent aller Fachärzte sind 60 Jahre und älter. Laut Bundesärztekammer sei noch immer ungewiss, ob dieser Verlust der Arbeitszeit in Zukunft kompensiert werden könne.
Die frei werdenden Hausarztsitze werden Nachwuchsärzte und zugewanderte Ärzte sicherlich nicht in gleicher Zahl besetzen. Das liegt zum einen daran, dass sich wenige Nachwuchsmediziner dafür entscheiden, sich als Hausarzt niederzulassen. Zum anderen bevorzugen junge Ärzte statt Einzelpraxen zunehmend Angestelltenverhältnisse und Teilzeitmodelle.
Prognose: So viele Hausärzte könnten 2035 fehlen
Einer Studie der Robert Bosch Stiftung zufolge werden im Jahr 2035 rund 11.000 Hausarztstellen in Deutschland unbesetzt sein, fast 40 Prozent der Landkreise werden unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein. Insbesondere für Bürger in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Baden-Württemberg könnte es demnach künftig schwierig werden, einen Hausarzt zu finden. In einigen Landkreisen gehe die Zahl der Hausärzte dort bis 2035 um rund 50 Prozent zurück, so die Studienautoren.
Während der Hausärztemangel bislang vor allem in ländlichen Regionen als Problem bekannt ist, werden in absehbarer Zeit zunehmend auch städtische Gebiete betroffen sein: So wird es in einigen mittelgroßen Städten laut Prognose 2035 rund 20 Prozent weniger Hausärzte geben.
Gleichzeitig verändert sich auch der Bedarf an medizinischer Versorgung: Aufgrund der immer älter werdenden Bevölkerung verschiebt sich das Krankheitsspektrum und es wird mehr Menschen mit chronischen und Mehrfacherkrankungen geben. Deshalb genügt es nicht, nur die Zahl der Hausärzte zu erhöhen. Auch Fachärzte und Reha-Einrichtungen werden künftig gefragter sein als je zuvor.