Erst will Wladimir Putin die Ukraine – und dann noch mehr? Schweden und Finnland rüsten sich gegen die Gefahr aus Russland. Kann Deutschland daraus etwas lernen?
Jeder müsse sich „auf einen Krieg vorbereiten“. Dazu rief die schwedische Regierung kürzlich ihre Bevölkerung auf. Das skandinavische Land hat die Wehrpflicht wieder eingeführt und wartet darauf, bald Mitglied der Nato zu werden. Finnland ist dem Verteidigungsbündnis im vergangenen Jahr beigetreten.
Nehmen diese Länder die Gefahr ernster, die Europa durch Russlands Präsidenten Wladimir Putin und sein Regime droht, als Deutschland? Kann die deutsche Politik von Schweden und Finnland lernen? Und was müsste konkret passieren?
Merle Spellerberg, Sicherheitspolitikerin der Grünen im Bundestag, hat in Schweden und Finnland mit Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft gesprochen. Im Interview mit t-online spricht sie über ihre Erkenntnisse.
t-online: Frau Spellerberg, sind Sie nach Ihrer Reise nach Finnland und Schweden besorgter oder hoffnungsvoller, was die sicherheitspolitische Lage Europas angeht?
Merle Spellerberg: Keines von beiden. Was sehr deutlich geworden ist: Die Risikobewertung in der breiteren Gesellschaft ist eine andere. Die Menschen sind sich schon sehr viel länger bewusst über die Gefahren. Deshalb ist auch die Politik gedanklich weiter. Ich bin unter anderem mit der Frage angereist: Für wie wahrscheinlich halten sie einen weiteren Angriff Russlands?
Interessanterweise lautete sie in beiden Ländern: Es geht gar nicht um die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs. Es reicht aus, dass die Möglichkeit besteht. Allein deswegen müssen wir vorbereitet sein.
Natürlich auf einen klassischen militärischen Angriff wie gegen die Ukraine. Aber eben auch auf hybride Angriffe, die es jetzt schon gibt. Da bringen Panzer und Munition nichts. Das fängt bei Cyberangriffen und Desinformation an, geht über Angriffe auf Pipelines bis hin zu dem Versuch, Druck aufzubauen, indem Wladimir Putin Geflüchtete gezielt an die Landesgrenzen schleust, wie offensichtlich zuletzt über Belarus nach Polen.
Und die Vorbereitung auf verschiedene Angriffe funktioniert in Schweden und Finnland besser?
Sie haben einen Vorsprung. Schon nach Putins Besetzung der Krim 2014 hat Schweden das Sicherheitskonzept des Landes neu gedacht, dort spricht man von „Totaler Verteidigung“. Das Verteidigungsministerium ist nicht nur für das Militärische zuständig, sondern auch für Zivilschutz. Bei uns liegt das im Bundesinnenministerium und zum Teil bei den Ländern. Das macht es oft komplizierter.
Zentralisierung birgt aber die Gefahr, dass sich alle anderen zurücklehnen.
Ja, es ist dort aber mehr, eher ein ganzheitlicher Ansatz. Es beschäftigt sich trotzdem jede Kommune mit Sicherheitsaspekten. Und es gibt zentrale Behörden, die sie dabei unterstützen.
Schweden hat ihre Psychological Defence Agency wiederbelebt, die sich mit Desinformation aus dem Ausland beschäftigt. Sie hilft den Sozialbehörden und anderen dabei, Fake News zu kontern. Es kursiert dort etwa die Falschnachricht, Schweden würde speziell muslimische Kinder aus ihren Familien reißen. Das stimmt nicht und wird wahrscheinlich aus dem Iran gestreut. Dem etwas entgegenzusetzen, ist wichtig für das Vertrauen in den Staat. Ein solcher Ansprechpartner für Kommunen wäre in Deutschland auch hilfreich.
Das klingt erst mal sehr weit weg von der akuten militärischen Bedrohung.
Russland setzt auch stark auf Desinformation, um Demokratien zu destabilisieren. Aber wir müssen auch aufpassen, dass wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und uns wieder nur auf die eine Gefahr vorbereiten, die vor der Tür steht: Putin.
Wir müssen auf alle Bedrohungen vorbereitet sein: Verteidigungskriege, internationale Kriseneinsätze, Klimakrise, hybride Angriffe. Die Ampelregierung hat das mit der Nationalen Sicherheitsstrategie in ein Konzept gefasst. Aber es muss jetzt auch Realität werden. Daran hapert es bei uns noch.
Es darf keine europäischen Atomwaffen geben. Das würde zu einem gefährlichen nuklearen Wettlauf führen.
Merle Spellerberg
Was hilft gegen hybride Angriffe? Wenn Putin zum Beispiel Geflüchtete an die europäischen Grenzen schickt?
Ein wichtiger Rat des Europäischen Zentrums gegen hybride Bedrohungen in Finnland war: mehr Gelassenheit.