Kann ein Ort zur Versöhnung beitragen? Natürlich sind es in erster Linie Menschen, die Erinnerungen wachhalten und gemeinsam an einer friedlichen Zukunft arbeiten. In manchen Fällen kann ein Gebäude aber auch zum Ort der Hoffnung werden, zum Symbol des Übergangs von der Vergangenheit in die Zukunft und zur zentralen Bühne für aktuelle Ereignisse. Die Kathedrale von Reims ist so ein Ort. Nirgendwo sonst ist die deutsch-französische Geschichte so konzentriert wie in dieser Kirche – eine Geschichte der Feindschaft und eine Geschichte der Freundschaft.
Im Herbst 1914 ereignete sich die Katastrophe, die dazu führte, dass beide Länder untrennbar mit diesem Ort verbunden waren. Deutsche Soldaten nahmen den Dom heftig unter Beschuss – wohlwissend, dass es sich bei dem Bau um ein nationales Wahrzeichen handelte. Über Jahrhunderte hinweg wurden dort die Könige Frankreichs gekrönt. Der Angriff, der das Dach dieses Meisterwerks gotischer Architektur in Brand setzte, diente ausschließlich der Demütigung des Feindes. In jenen frühen Tagen des Ersten Weltkriegs wurde Reims zum Inbegriff der Barbarei und mutwilligen Zerstörungskraft des Krieges. Auch im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg hat die Stadt im Nordosten Frankreichs eine große symbolische Bedeutung: Am 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im alliierten Hauptquartier in Reims das Dokument, das die bedingungslose Kapitulation Deutschlands besiegelte.
Ein Gottesdienst mit besonderer Bedeutung
Etwa 17 Jahre später begann sich Reims allmählich von einem Symbol des Grauens in einen Ort der Heilung zu verwandeln. Am 8. Juli 1962 nahmen der französische Präsident Charles de Gaulle und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer an einem Versöhnungsgottesdienst in der Kathedrale teil – eine erste, vorsichtige Annäherung sechs Monate bevor die beiden Länder 1963 im Élysée-Palast den Freundschaftsvertrag unterzeichneten. Fünfzig Jahre nach dem Treffen in Reims kamen François Hollande und Angela Merkel in die Kathedrale, um ihr Kooperationsversprechen zu erneuern.
Über solche großen politischen Gesten hinaus kreuzten sich in jüngster Zeit auch die Wege beider Länder im Dom. Frankreich beauftragte den deutschen Künstler Imi Knoebel mit der Gestaltung einiger hoher Fenster hinter dem Altar anlässlich des 800-jährigen Bestehens der Kirche im Jahr 2011. Etwas Symbolischeres kann man sich kaum vorstellen: Einem Deutschen wird an diesem Ort die Möglichkeit gegeben, sich zu verewigen Mit solchem Schmerz und solcher Gewalt assoziieren die Franzosen einen Ort, an dem die Sinnlosigkeit des Krieges ebenso offensichtlich ist wie im nahegelegenen Verdun mit seinen scheinbar endlosen Reihen von Grabsteinen.
Wie die Kirchenfenster Kunst und Glauben verbinden
Es scheint, dass Imi Knoebel in seiner Arbeit keinen Versuch machte, Demut zu zeigen. Seine sechs Buntglasscheiben, die eine Gesamtfläche von 115 Quadratmetern abdecken, sind Farbexplosionen – leuchtende, fragmentierende, funkelnde Anordnungen ungleich großer Stücke. Sie erhellen den Raum und vermitteln ein Gefühl der Unruhe; Sie sind schön und beunruhigend zugleich. Für die einzelnen Elemente wählte Knoebel kräftige Nuancen von Rot, Gelb und Blau. Licht durchdringt das Innere der Kathedrale wie durch brennende Glassplitter. Mit leuchtenden Farben und scharfen Schnitten macht der Künstler auf das Grauen aufmerksam, das sich hier abspielte, und legt dabei doch eine gewisse Demut an den Tag.
Dennoch fragten sich viele Menschen, ob es angemessen sei, ein modernes, unverschämt farbenfrohes und höchst individuelles Werk in einer so geschichtsträchtigen Kirche wie der Kathedrale von Reims zu platzieren – insbesondere in einem Werk, das so weit von Kirchenkunst entfernt ist. Knoebels Fenster ähneln keinem der anderen im Dom. Einige der Buntglasfenster stammen aus dem Mittelalter und wurden restauriert, andere wurden später von Künstlern gestaltet. Viele davon zeigen Geschichten aus der Bibel oder die schwere Arbeit der Winzer in der Champagne rund um Reims. Drei von Marc Chagall entworfene Fenster nehmen einen zentralen Platz in der weitläufigen Kirche am Ende des Kirchenschiffs ein. In sanften Blautönen stellen sie Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament dar. Auf beiden Seiten eingerahmt von Imi Knoebels ausdrucksstarken Werken hätte man leicht befürchten können, dass sie in den Schatten gestellt werden, doch genau das ist nicht geschehen: Stattdessen lassen die kräftigen Farben von Knoebels Scheiben auch Chagalls Fenster in einem neuen Licht erscheinen.
Durch Imi Knoebels Bilder ist der Dom zur Heimat einer vielleicht nicht politischen, aber durchaus humanistischen Kunst geworden, die selbst Teil dieses lebendigen Denkmals geworden ist. Dies schafft einen angemessenen und ermutigenden Rahmen für künftige deutsch-französische Begegnungen an diesem besonderen Ort.