Seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas ist die Stimmung in der deutschen Gesellschaft aufgeheizt. Die sozialen Medien verschärften das, kritisiert Historiker Meron Mendel.
Mit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf israelische Zivilisten ist der Konflikt im Nahen Osten wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. „Der Nahostkonflikt spielt eine besonders identitätsstiftende und emotionalisierende Rolle in Deutschland und in Europa“, sagt Meron Mendel, Historiker und Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, im Interview mit t-online. Und: „Jeder hat eine klare Meinung.“
Der Historiker setzt sich dafür ein, Lehrkräfte und Schüler für Rechtsextremismus und Antisemitismus zu sensibilisieren und Desinformationen auszuräumen. All das aber habe seit dem 7. Oktober rapide zugenommen. „Die sozialen Medien wirken dabei wie ein Brandbeschleuniger“, warnt Mendel – und fordert auch politisches Eingreifen.
Herr Mendel, der Antisemitismus in Deutschland ist rasant angestiegen, gleichzeitig gehen viele Menschen gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Wie blicken Sie auf die aktuelle Lage?
Meron Mendel: Mit großer Sorge. Denn das sind Themen, die meine Arbeit, aber auch mich ganz persönlich betreffen. Ich war selbst auf den Demonstrationen gegen die AfD, so wie ich bereits vorher auf anderen Demos war. Der Unterschied aber ist: Nun gehen auch Menschen auf die Straße, die bisher weniger bis gar nicht politisch waren. Sie merken, dass es kurz vor zwölf ist. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Die Frage ist nur, ob die Mobilisierung innerhalb der Gesellschaft und der aktuelle Abwärtstrend der AfD in den Umfragen anhalten.
Nach dem Angriff der Hamas auf Israel und antisemitischen Vorfällen in Deutschland hat es zwar auch Demonstrationen gegeben, allerdings waren diese kleiner. Hätten Sie sich da ähnlich große Proteste gewünscht?
Ich glaube, man kann die Proteste zum Hamas-Angriff nicht mit einem innenpolitischen Ereignis vergleichen. Die öffentlichen Reaktionen auf das Massaker vom 7. Oktober und den Krieg in Gaza haben sich im Lauf der Zeit gewandelt. Aktuell stehen die Kriegsführung Israels und die humanitäre Katastrophe in Gaza im Mittelpunkt der Kritik. Kurz nach dem 7. Oktober, noch bevor die israelische Bodenoffensive begonnen hatte, habe ich mir mehr Empathie gewünscht für die Opfer des Massakers. Was ausgeblieben ist, wird deutlich, wenn man die Reaktionen auf die Ereignisse vom 7. Oktober mit jenen auf andere große islamistische Terrorangriffe vergleicht.
Die Solidarität in der deutschen Gesellschaft mit den Zivilisten in Israel unmittelbar nach dem 7. Oktober war deutlich geringer als mit den Amerikanern im Jahr 2001. Damals sammelten sich beispielsweise rund zweihunderttausend Menschen vor dem Brandenburger Tor, um dem amerikanischen Volk ihre Solidarität zu zeigen. Nach dem 7. Oktober waren es kaum zehntausend Menschen im gleichen Ort.
Zur Person
Meron Mendel ist seit 2010 Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Seit 2021 ist Mendel zudem Professor für Transnationale Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und forscht unter anderem zur Gegenwart des Antisemitismus sowie zur Zukunft der Erinnerungskultur.
Warum, denken Sie, fiel die Reaktion in der deutschen Gesellschaft so verhalten aus?
Wenn etwa Amerikaner oder Franzosen angegriffen werden, dann wird das eher als ein Angriff auf ‚uns‘ wahrgenommen. Der Angriff am 7. Oktober, bei dem israelische Zivilisten auf grausame Art und Weise massakriert wurden, wurde so nicht wahrgenommen. Das hat einerseits mit der Wahrnehmung des Nahostkonflikts zu tun, liegt andererseits aber auch an der Wahrnehmung von Juden.
Die Deutschen fühlen sich den Juden in Israel nicht besonders nahe. Sie gehören aus Sicht der deutschen Bevölkerung nicht automatisch zum Teil des ‚Wir‘.
Das steht allerdings im Widerspruch zur deutschen Staatsräson, die Israel die Solidarität Deutschlands verspricht.
Ja. Die Solidarität zu Israel ist ein politisches Elitenprojekt, das die deutsche Bevölkerung nie erreicht hat. Schaut man sich andere Versöhnungsprojekte der westdeutschen Nachkriegszeit an, wie mit Frankreich oder den USA, dann sieht man, dass diese große Teile der Bevölkerung mitgenommen haben. So ist eine echte, authentische Beziehung zwischen den Menschen entstanden. Im Vergleich dazu ist die Verbindung der Deutschen mit Israel eher abstrakt. 93 Prozent der Deutschen waren noch nie dort und haben keine persönlichen Beziehungen dahin.
Dennoch rückt Israel immer wieder in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. In Ihrem Buch „Über Israel reden“ kritisieren Sie, dass es in der deutschen Bevölkerung eine Polarisierung gebe, die einem echten Austausch über den Nahostkonflikt im Wege stehe. Hat sich das mit dem 7. Oktober verändert?