München Angesichts massiver Spannungen in der Ukraine-Krise und ohne die Beteiligung Russlands hat die 58. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) begonnen. „Heute droht neuer Krieg – mitten in unserem Europa“, warnte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Russland spreche mit seinem Truppenaufmarsch eine absolut inakzeptable Drohung aus.
Die Atommacht Russland kündigte indes ein Manöver mit Einsatz ballistischer Raketen an. Die Übung an diesem Samstag steht laut Verteidigungsministerium unter Führung von Staatschef Wladimir Putin. Ziel sei, die strategischen Nuklearwaffen auf ihre Zuverlässigkeit zu testen.
„Diese Krise ist deswegen keine Ukraine-Krise. Sie ist eine Russland-Krise“, sagte die Grünen-Politikerin. Wenn es zu einem russischen Angriff auf die Ukraine komme, dann hätte dies large Konsequenzen für Russland – finanziell, politisch und wirtschaftlich. Dazu gehöre auch die Ostseepipeline Nord Stream 2.
Die russische Drohung sei weiterhin actual. Aus Provokation und Desinformation könne schnell Eskalation werden. Zugleich bekräftigte Baerbock, der Westen sei zu einem ernsthaften Dialog mit Moskau über die Sicherheitslage in Europa bereit. Die jüngste Antwort aus Moskau hält sie allerdings nicht für ermutigend. Russland hatte darin unter anderem den Rückzug der Nato aus den osteuropäischen Mitgliedsländern gefordert und mit „militärisch-technischen Maßnahmen“ gedroht.
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„Wir sind nach wie vor sehr besorgt, dass Russland nicht den diplomatischen Weg aus der Krise wählt“, sagte US-Außenminister Antony Blinken. Russland arbeite bereits mit bewussten Provokationen, sagte Blinken mit Blick auf die jüngsten Scharmützel in der Ost-Ukraine. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko wiederholte seine Forderung nach deutschen Waffenlieferungen. Baerbock lehnt das jedoch mit dem Hinweis auf die deutsche Geschichte ab.
Baerbock droht Russland: „Die Sanktionen wären präzedenzlos“
Im Zentrum der zweitägigen Veranstaltung mit mehr als 30 Staats- und Regierungschefs sowie rund 100 Außen- und Verteidigungsministern steht der Ukraine-Konflikt. Nachdem es zwischenzeitlich nach einer vorsichtigen Entspannung ausgesehen hatte, ist die Kriegsgefahr wieder gestiegen.
Bundeskanzler Olaf Scholz wird am Samstag dazu Stellung nehmen. Gleichzeitig wollen die Außenminister der sieben großen Industrienationen (G7) in München über ihr weiteres Vorgehen beraten.
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„Das ist vermutlich die wichtigste Sicherheitskonferenz der vergangenen 14 Jahre“, sagte der scheidende MSC-Vorsitzende Wolfgang Ischinger mit Blick auf die Kriegsgefahr in Osteuropa. Er könne sich nicht erinnern, dass es jemals zuvor so viele Krisen und Konflikte gegeben hätte.
Russland und OSZE zeigen sich „sehr besorgt“ über Angriffe im Donbass
In den von russischen Separatisten kontrollierten Provinzen Donezk und Luhansk in der Ostukraine kam es nach Darstellung der Regierung in Kiew erneut zu Gefechten. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sprach von einem alarmierenden und starken Anstieg des Beschusses in der Ostukraine. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellte vermehrte Verstöße gegen die vereinbarte Waffenruhe fest.
Russland, das an der ukrainischen Grenze mehr als 150.000 Soldaten versammelt hat, will am Samstag Manöver seiner Atomstreitkräfte durchführen. Noch heute will US-Präsident Joe Biden mit den wichtigsten Verbündeten telefonieren. US-Außenminister Antony Blinken wird in der nächsten Woche seinen russischen Amtskollegen Lawrow treffen. Lawrow, eigentlich Stammgast in München, hatte seine Teilnahme an der MSC abgesagt.
Die Lage in der Ostukraine eskaliert derweil zunehmend: Wegen der Gefahr einer militärischen Eskalation in der Ostukraine haben die moskautreuen Separatisten Zivilisten zur Flucht in das Nachbarland Russland aufgefordert. Zuerst sollten „Frauen, Kinder und ältere Leute“ in Sicherheit gebracht werden, sagte der Chef der Donezker Separatisten, Denis Puschilin, in einer am Freitag veröffentlichten Ansprache. „Eine zeitweise Ausreise bewahrt Ihnen und Ihren Verwandten das Leben.“
Die Separatisten warfen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor, er wolle „in nächster Zeit“ eine Offensive starten. Kiew hat wiederholt den Vorwurf der Angriffsvorbereitungen zurückgewiesen. Erst am Freitag wies die ukrainische Armee Vorwürfe der Aufständischen strikt zurück, dass Soldaten Siedlungen beschießen würden.
Puschilin wandte sich an die Bewohner mit der „inständigen Bitte“, die „massenhafte, zentralisierte Ausreise“ wahrzunehmen. In Absprache mit den russischen Behörden seien im benachbarten Gebiet Rostow im Süden Russlands Unterkünfte bereitgestellt worden.
Auch die selbst ausgerufene Republik Luhansk kündigt an, ihre Bevölkerung zu evakuieren. Zuvor hatte dies bereits der Chef der Separatisten in der selbst erklärten Volksrepublik Donezk erklärt. Der Sprecher der russischen Regierung, Dmitri Peskow, erklärte, er habe keine Informationen über die Lage im Osten der Ukraine. Er wisse nicht, ob die angekündigten Evakuierungen mit Russland abgestimmt seien.
USA fürchten Fluchtbewegung nach Polen
Mit Blick auf die angespannte Lage warnte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin vor einer neuen Flüchtlingsbewegung in Europa. „Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, könnte Polen Zehntausende von vertriebenen Ukrainern und anderen Menschen über seine Grenze strömen sehen, die versuchen, sich und ihre Familien vor den Schrecken des Krieges zu retten“, sagte Austin in Warschau nach einem Treffen mit Polens Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak.
Blaszczak sagte, Polen sei bereit zur Hilfe für diejenigen, die bei einem Angriff gezwungen sein würden, die Ukraine zu verlassen. Polen hatte in der vergangenen Woche bekannt gegeben, dass sich die Gebietsverwaltungen in seinem Land auf die Aufnahme von Flüchtlingen einstellten und Notunterkünfte vorbereiteten.
Ischinger forderte die rund 500 Teilnehmer auf, die Hilflosigkeit zu überwinden, die viele Menschen mit Blick auf die zahlreichen Krisen und Konflikte verspürten. Anónio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN), kritisierte, dass die Großmächte ihre Fähigkeit zu Dialog und Kooperation eingebüßt hätten. Er warnte insbesondere vor einer militärischen Eskalation in der Ukraine: „Das wäre katastrophal.“ Die UN-Charta verpflichte jedes Mitglied, die territoriale Unversehrtheit und politische Souveränität anderer Staaten zu respektieren.
Ischinger weist Vorwürfe zu finanziellen Interessen zurück
Für den Initiator der Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, ist es nach 14 Jahren die letzte Sicherheitskonferenz, die er als Vorsitzender leitet. Sein Nachfolger ist der ehemalige Merkel-Berater Christoph Heusgen. Kurz vor Beginn der Tagung hatten die Politmagazine „Der Spiegel“ und „Politico“ Ischinger vorgeworfen, persönliche finanzielle Interessen mit seinem Posten bei der Sicherheitskonferenz vermischt zu haben.
Dabei geht es um Lobbyarbeit der Beratungsfirma Agora für Rüstungsfirmen. Ischinger ist mit 30 Prozent an Agora beteiligt, hat die Anteile nach eigenen Angaben jedoch einem Treuhänder (blind belief) übergeben. „Ich habe ein absolut reines Gewissen. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen“, wies der Diplomat die Vorwürfe zurück.
Kritik kam dagegen von den Grünen und Nicht-Regierungsorganisationen. „Die Berichterstattung lässt mich mit einem unguten Gefühl nach München fahren“, sagte die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Sara Nanni, und verlangte „eine zügige Aufklärung“ des Sachverhalts. „Wolfgang Ischinger sollte sich aus seiner Beratungsfirma vollständig zurückziehen und den Interessenkonflikt auflösen“, forderte Timo Lange von der Watchdog-Organisation Lobbycontrol. Alexander Lurz, Abrüstungsexperte von Greenpeace, sprach von einem „moralischen Tiefschlag“ für Ischinger und stellte die „Neutralität seiner außenpolitischen Wortmeldungen“ infrage.
Mit Agenturmaterial.
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