Berlin Olaf Scholz hatte sie alle überrumpelt. „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, kündigte der Kanzler am Sonntag in seiner Regierungserklärung im Bundestag an. Dazu werde ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro gebildet. Nicht nur bei der Opposition, sondern auch in den Regierungsfraktionen warfare man erstaunt.
Denn in seinen Plan hatte Scholz zuvor nur sehr wenige eingeweiht. Zu dem kleinen Kreis gehörte Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner, für dessen Unterstützung Scholz „sehr dankbar“ ist, wie er sagte. Die Grünenspitze, inklusive Vizekanzler Robert Habeck, soll hingegen erst durch die Rede im Bundestag von der konkreten Summe erfahren haben, ebenso die SPD-Fraktion.
Scholz wollte sicherstellen, dass er selbst diese starke Aufrüstung der Bundeswehr – eine Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik – verkündet und sie nicht vorher ausgeplaudert wird. Widerstand aus den eigenen Reihen konnte sich so vor der Ankündigung nicht formieren.
Das Vorhaben muss nun noch vom Bundestag beschlossen werden. Bisher sieht es so aus, als sollte das klappen. Selbst bei den aus der Friedens- und Umweltbewegung hervorgegangenen Grünen, die sich nie hinter das Zwei-Prozent-Ziel der Nato gestellt hatten, ist kein nennenswerter Widerstand gegen die zusätzlichen Milliarden für die Bundeswehr zu hören. „Angesichts der aktuellen Lage in Europa ist es wichtig, mehr in Sicherheit zu investieren“, sagte Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge.
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Dazu gehörten höhere Verteidigungsausgaben. Zusätzlich brauche es jedoch eine schnelle Reform des Beschaffungswesens der Bundeswehr. Es sei „richtig, die Mittel für eine neu aufgestellte Sicherheitspolitik aus einem Sondervermögen zu ziehen“, betont auch der frühere Fraktionschef Anton Hofreiter.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine habe eine außerordentliche Notsituation geschaffen. „Wir dürfen darüber aber nicht die anderen Herausforderungen vergessen, die vor uns stehen: Auch der klimagerechte Umbau unserer Wirtschaft erfordert huge Investitionen.“
Angesichts des Kriegs wird von allen Ampelpartnern betont, dass nun nicht die Zeit für parteipolitische Streitereien sei. Dabei gibt es vor allem für die Grünen durchaus Grund zum Murren. Scholz hat sie nicht nur mit den 100 Milliarden Euro überrumpelt.
Auch beim Stopp des Gaspipeline-Projekts Nord Stream 2 – eine Forderung, die die Grünen viel länger als die SPD erheben – preschte der Kanzler vor. Er habe Habeck angewiesen, das vorzubereiten, so klang es bei Scholz. Man müsse Habeck in dieser Frage nicht anweisen, hieß es daraufhin in dessen Umfeld.
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Aber es geht um mehr als um Kommunikations- und Stilfragen. Vor allem die Grünen müssen grundsätzliche Positionen räumen: bei der Aufrüstung der Bundeswehr – und demnächst möglicherweise in der Energiepolitik.
Es werden Forderungen laut, Atom- und Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen. Bei der Kernenergie gilt das zwar als unwahrscheinlich. „Eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ist unpraktikabel und mit vielen Sicherheitsrisiken verbunden. Das hat eine Prüfung des Wirtschaftsministeriums ergeben“, betont Dröge. Aber es könnte den Druck erhöhen, den Kohleausstieg nach hinten zu schieben.
Fraktionskollege Hofreiter erklärt sowohl eine Verschiebung des Kohleausstiegs als auch eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke für ungeeignet, um mögliche Versorgungsengpässe auszugleichen. „Der einzige Weg zu echter Energiesouveränität in Europa ist der rasche Ausbau erneuerbarer Energien“, so Hofreiter.
Als Reaktion auf die enorme Steigerung bei den Verteidigungsausgaben wollen die Grünen nun offenbar mehr Geld für Investitionen in die Energiewende aushandeln
(Foto: imago pictures/BildFunkMV)
Als Reaktion auf die enorme Steigerung bei den Verteidigungsausgaben wollen die Grünen nun offenbar mehr Geld für Investitionen in die Energiewende aushandeln, das durch höhere Schulden finanziert werden soll. Im Gespräch ist eine Aufstockung des Klima- und Transformationsfonds (KTF), erfuhr das Handelsblatt aus Regierungskreisen. Die Verhandlungen in dieser Richtung liefen bereits, heißt es.
Die Größenordnung ist noch unklar. Es kursieren Zahlen, die in eine ähnliche Richtung wie das 100 Milliarden Euro fassende Sondervermögen für Verteidigung gehen könnten. In den KTF hatte der Bund Ende 2021 rund 60 Milliarden Euro eingestellt.
In der Fraktion kommt der Vorstoß intestine an. „‚Freiheitsenergien‘ hat Finanzminister Christian Lindner die Erneuerbaren genannt. Entschlossene Investitionen in Freiheit und Sicherheit sollten uns eine deutliche Aufstockung des KTF wert sein“, sagte Dieter Janecek, wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen.
Die Grünen machen zudem deutlich, dass sie nicht die Einzigen in der Ampelkoalition sein wollen, die sich von lang gepflegten Überzeugungen verabschieden. Deshalb stellen sie die Schuldenbremse nun offen infrage.
„Angesichts der aktuellen Notlage kann gerade niemand seriös vorhersagen, ob die Schuldenbremse nächstes Jahr eingehalten werden kann“, sagt Dröge. Die Grünen-Finanzpolitikerin Lisa Paus wird noch deutlicher: „Bundeskanzler Scholz hat zu Recht von einer ‚Zeitenwende‘ gesprochen.
Die Grünen wollen nicht die Einzigen in der Ampelkoalition sein, die sich von lang gepflegten Überzeugungen verabschieden. Deshalb stellen sie die Schuldenbremse nun offen infrage.
(Foto: imago pictures/photothek)
Vor diesem Hintergrund gehört alles auf den Prüfstand – auch ein paar alte Glaubenssätze der Finanzpolitik, wie die Schuldenbremse.“ Ob hingegen für das geplante Sondervermögen eine Absicherung durch eine Grundgesetzänderung nötig wäre, sei bisher nicht klar.
Die Grünen fordern schon länger eine Reform der Schuldenbremse. Zudem wollen sie vermeiden, dass nun die Kosten für die Aufrüstung im Haushalt zulasten ihrer Anliegen wie massiver Investitionen in den Klimaschutz gehen.
Große Hürde: eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag
Dabei haben die Grünen auch Unterstützer in der SPD. Der linke Flügel tut sich ebenfalls schon lange schwer mit der Schuldenbremse. Der Co-Vorsitzende des Boards Demokratische Linke in der SPD (DL21), Sebastian Roloff, plädiert für eine Abkehr, um die geplanten Investitionen zu finanzieren. „Die Schuldenbremse muss weg“, sagte Roloff. Es zeige sich doch an allen Stellen, dass sie „nicht zeitgemäß“ sei.
„Wir standen schon vor Putins Krieg vor vielen Herausforderungen, für die es dringend Investitionen braucht“, betonte der Bundestagsabgeordnete. „Wenn in Zukunft Verteidigungspolitik noch teurer wird, geht das nicht über Einsparungen bei sozialen Vorhaben, im Gesundheitssystem oder bei Maßnahmen zur ökologischen und digitalen Transformation und auch nicht über die Einrichtung irgendwelcher Sondervermögen am Haushalt vorbei.“
Auch der Chef des SPD-Arbeitnehmerflügels, Klaus Barthel, hält die Schuldenbremse angesichts der „enormen“ Investitionsbedarfe in verschiedenen Bereichen für längst obsolet. Das gelte aber nicht unbedingt im Bereich der Bundeswehr und der Landesverteidigung. „Dort scheiterte bisher vieles an fehlender Strategie, Planung, Koordination und Beschaffung, nicht an fehlenden Mitteln“, sagte Barthel. Das bedeute im Umkehrschluss jedoch nicht, dass auch die Bundeswehr womöglich mehr Geld brauche. „Das müsste aber erst einmal definiert und beziffert werden. Von Geld allein wird Putin nicht zu beeindrucken sein.“
Allerdings gibt es bei der Abschaffung oder Aufweichung der Schuldenbremse eine Hürde: Es wird eine Zweitdrittelmehrheit im Bundestag benötigt, weil das Grundgesetz geändert werden muss. Die Union wird das Ganze jedoch kaum mittragen. Zumal Scholz mit dem einmaligen Sondervermögen von 100 Milliarden Euro schon einen Weg aufgezeigt hat, dem CDU und CSU deutlich leichter zustimmen können.
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