München Transparenz in den Lieferketten wird für Unternehmen angesichts eigener Klima- und Nachhaltigkeitsziele sowie regulatorischer Anforderungen immer wichtiger. „Es reicht längst nicht mehr, den Zulieferer nur nach dem niedrigsten Preis auszuwählen und dann Verhaltensregeln zu verschicken“, sagt Martin Berr-Sorokin, Mitgründer und CEO von Integrity Next.
Das Start-up hat eine Software-Plattform entwickelt, die helfen soll, Risiken zum Beispiel in Sachen Umwelt, Menschenrechte und CO2-Ausstoß in der Lieferkette zu entdecken und zu managen. Die Firma konnte jetzt EQT Growth als Investor gewinnen. Der Venture-Capital-Spezialist steckt 100 Millionen Euro seines Growth Funds in das Unternehmen.
Damit gelang Integrity Next in einem schwierigen Umfeld eine der größten Finanzierungsrunden unter deutschen Start-ups in letzter Zeit.
Die Situation für junge Unternehmen hatte sich in den vergangenen Wochen mit der Pleite der Silicon Valley Bank noch einmal verschärft. „Wir standen nicht unter Druck, Kapital aufzunehmen, weil wir profitabel sind“, sagte Berr-Sorokin. „Doch jetzt ist der richtige Zeitpunkt, in Wachstum zu investieren.“
Der Fall zeige, sagt Carsten Rudolph, Geschäftsführer des Investorennetzwerks BayStartup: „Gut vorbereitete Start-ups in attraktiven Märkten treffen nach wie vor auf gut gefüllte und investitionsbereite Fonds.“ Integrity Next besetze ein Thema, das für Investoren interessant sei.
Um wen geht es?
Das Münchener Start-up wurde 2016 von Berr-Sorokin, Simon Jaehnig (CRO) and Nick Heine (COO) gegründet und hat sich bislang selbst finanziert. Der CEO hatte zuvor Erfahrungen im Einkaufs- und Lieferkettenbereich gesammelt und Softwareexpertise.
Damals bei Unternehmensgründung seien Themen wie Nachhaltigkeit in den Lieferketten eher ein „Nice-to-have“ gewesen, also etwas, das nett ist, wenn man es hat, aber kein Muss. „Ursprünglich wollten wir vor allem eine Plattform für den Mittelstand entwickeln“, sagt Berr-Sorokin. Doch vor allem große Konzerne hätten das Thema früh für sich erkannt.
Warum ist die Geschäftsidee wichtig?
Viele Unternehmen haben sich ESG-Ziele gesetzt. „E“ steht für ökologisch (englisch: environmental), „S“ für sozial, „G“ für Governance, es geht also um gute Unternehmensführung. Hinzu kamen dann noch Vorgaben wie das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz zum Jahreswechsel.
Firmen, deren Lieferanten gegen die Menschenrechte verstoßen, drohen künftig hohe Millionenbußen. „Die meisten Unternehmen haben bei der Vorbereitung auf die Auswirkungen des Lieferkettengesetzes noch Nachholbedarf“, sagt Verena Deller, Lieferkettenexpertin der Einkaufsberatung Inverto. „Wir sehen eine große Unsicherheit bei den Betroffenen.“
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Auf der Plattform bietet Integrity Next nun in Echtzeit Informationen über Tausende von Zulieferern. Die Analysetools überwachen dazu laut Unternehmensangaben mehr als eine Million Unternehmen in 190 Ländern. Genutzt werden unter anderem öffentlich zugängliche Datenbanken, aber auch kritische Nachrichten zum Beispiel über Umweltskandale. Damit solle es ermöglicht werden, die ESG-Risiken in Echtzeit zu managen.
Laut Schätzungen des Investors EQT dürfte der Markt für Lieferketten-Software in Europa in den kommenden Jahren um jeweils mehr als 50 Prozent auf mittelfristig zwei Milliarden Euro wachsen. Andere Experten wie die Beratung PwC gehen von einem noch größeren Potenzial aus.
Wie weit ist Integrity Next?
Die Cloud-Plattform steht. Seit 2017 ist Integrity Next bereits mit einem ersten Produkt auf dem Markt, das um immer mehr Kategorien erweitert wurde. Kunden können etwa nach Kategorien wie Kinderarbeit, CO2-Belastung und Umweltschutz sortieren. Insgesamt werden bisher kritische Themen abgedeckt.
Nick Heine, Martin Berr-Sorokin und Simon Jaehnig (von links) wollten ursprünglich insbesondere eine Plattform für den Mittelstand entwickeln.
(Foto: Integrity Next)
Mit der Plattform sei es damit möglich, einen durchgängigen ESG-Risikomanagementprozess einzurichten, der internationale Standards und Vorschriften sowie freiwillige Verpflichtungen wie Klimaziele abdecke, heißt es bei Integrity Next.
Zu den Kunden gehören zum Beispiel große Unternehmen wie Evonik, Fresenius Medical Care, Henkel, RWE und Siemens Gamesa. Jetzt will man sich auch verstärkt auf den Mittelstand fokussieren. Der jährlich wiederkehrende Umsatz des Unternehmens wuchs laut Branchenschätzungen in den vergangenen Jahren mit dreistelligen Wachstumsraten auf einen zweistelligen Millionenbetrag.
Welche Herausforderungen gibt es?
Der Markt sortiert sich gerade. „Der größte Wettbewerber sind derzeit Unternehmen, die versuchen, das im eigenen Haus selbst zu machen“, sagt Dominik Stein, Partner von EQT Growth. „Da muss ein Mittelständler dann zehn, 20 Mitarbeiter beschäftigen, die die Zulieferer abtelefonieren.“ Diese Firmen müssen also davon überzeugt werden, dass eine Digitalplattform attraktiver für sie ist.
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Daneben gibt es als Konkurrenz spezialisierte Beratungsunternehmen und Firmen, die Zulieferer einzeln zertifizieren. „Wir haben uns den Markt sehr genau angesehen und sind zu dem Schluss gekommen, dass die automatisierte Softwarelösung von Integrity Next die beste Lösung ist“, sagt Stein.
Wichtig ist zudem, sagt ein Manager eines anderen Softwaresystems, dass die Plattform an klassische Systeme wie SAP angebunden werden kann. Dies gelte auch für Projekte wie Catena-X, mit dem die Autoindustrie den Datenaustausch zwischen Herstellern und ihren Zulieferern verbessert. Dazu gründeten BASF, BMW, Henkel, Mercedes, SAP, Schaeffler, Siemens, T-Systems, Volkswagen und ZF kürzlich die Betreibergesellschaft Cofinity-X. Integrity Next strebt Kompatibilität mit Catena-X an.
Wie geht es weiter?
Die Plattform soll nun groß ausgerollt werden. Dazu gibt EQT nicht nur 100 Millionen Euro, es will das Management auch operativ beraten. „Wir haben spannende Vorschläge für personelle Besetzungen, etwa für den Aufsichtsrat“, sagt EQT-Growth-Partner Stein. Zudem habe man im eigenen Haus Experten zum Beispiel für die Digitalisierung, die Produktentwicklung, Akquisitionsthemen und die Einstellung von Talenten. Diese Expertise könne man an Integrity Next weitergeben.
Die gemeinsame Vision ist es laut Stein, „das Unternehmen noch deutlich größer zu machen“. Es werde in den nächsten Jahren weltweit – aus gutem Grund – immer mehr Regulierung bei den ESG-Themen geben. Daher werde der Markt wachsen und sich erweitern. Der Fokus in den nächsten Jahren liege auf der Skalierung des Geschäftsmodells, so Stein. „Langfristig könnte das auch einmal eine tolle Story für einen Börsengang werden.“
Das Handelsblatt stellt jede Woche junge Firmen vor, die Manager, Unternehmer und Wirtschaftsinteressierte jetzt in den Blick nehmen sollten. Im Fokus steht das Innovationspotenzial, auf das auch Investoren besonders achten. Die Geschäftsmodelle und Ideen könnten auch in anderen Branchen neue Impulse für Produkte und Lösungen setzen.