Brüssel, Paris In seinem Temporary an die europäischen Staats- und Regierungschefs beschreibt EU-Ratspräsident Charles Michel die Dramatik der aktuellen State of affairs schon im ersten Satz: „Russland hat den Krieg nach Europa getragen“, heißt es in der Einladung für den informellen EU-Gipfel. Im französischen Versailles wollen die EU-Spitzen an diesem Donnerstag und Freitag über die Konsequenzen der russischen Aggression beraten.
Die Verteidigungsfähigkeit verbessern, die Energieabhängigkeit von Russland reduzieren und die wirtschaftliche Foundation stärken – diese Ziele gibt Michel vor.
Doch ausgerechnet vor dem großen Gipfel zeigen sich erste Risse in der geeinten Entrance. Alte Kontroversen treten wieder hervor.
Streit gibt es zum einen darüber, ob die EU die Ukraine mit offenen Armen willkommen heißen sollte. Das Land hatte kürzlich offiziell seinen Beitritt zur Union beantragt.
Gerade die Osteuropäer dringen darauf, ein klares Zeichen der Solidarität an Kiew zu senden und die europäische Perspektive der Ukraine zu bekräftigen, indem das Land als offizieller Beitrittskandidat bestätigt wird. Andere Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, plädieren für Vorsicht.
Gemeinsamer Fonds als Streitpunkt
Eine Sorge ist, dass sich die EU den Spielraum für eine Lösung des Konflikts verbauen könnte. Der Kreml macht bisher die Neutralität der Ukraine zur Bedingung für eine Waffenruhe.
Darüber hinaus tobt eine Schuldendebatte: In Brüssel gibt es Überlegungen für einen gemeinsamen Fonds, um die ökonomischen Kriegsfolgen abzufedern. Zunächst kursierte der Vorschlag, ein neue Kreditlinie nach dem Vorbild des europäischen Kurzarbeit-Programms „Sure“ aufzulegen, um die Energietransformation voranzutreiben. Doch schon innerhalb der Gemeinschaftsprojekten eigentlich stets aufgeschlossenen EU-Kommission stießen die Überlegungen auf Skepsis.
Die nächste Idee battle noch ambitionierter: Die EU könnte gemeinsame Schulden aufnehmen, um dringend benötigte Investitionen in den Bereichen Verteidigung und Energie zu finanzieren – nach dem Vorbild des in der Pandemie aufgelegten Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“.
Beide Vorschläge, so vermuten es Spitzenbeamte in Brüssel, wurden gezielt von Frankreich lanciert. Der französische Präsident Emmanuel Macron steht im Wahlkampf, will sich als Gestalter eines neuen, wehrhaften Europas präsentieren.
Der Unmut über die französischen Profilierungsversuche ist unter anderem in Österreich und Dänemark erheblich. Auch der Bundesregierung kommt die Debatte äußerst ungelegen.
Von der französischen Regierung heißt es offiziell: „Kein Kommentar.“ Die Franzosen gehen aber mit breiter Brust in die Debatte, Paris fühlt sich in wesentlichen wirtschaftspolitischen Fragen durch den Krieg bestätigt. Schon seit Jahren warnt Frankreich vor den Risiken der Rohstoffabhängigkeit.
Die Regierung setzt bei der Energietransformation anders als Deutschland nicht auf Fuel, sondern Kernkraft. Präsident Emmanuel Macron hatte Anfang Februar den Bau von bis zu 14 neuen Atomreaktoren angekündigt.
Le Maire: Französische Place wird zum Umdenken führen
Der französische Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire sagte in einer Rede am Mittwoch, Paris sei in den vergangenen Jahren der „Motor mehrerer konzeptioneller Revolutionen“ in Brüssel gewesen, etwa bei den Staatshilfen oder der Industriepolitik. Auch in der Energiefrage werde die französische Place in Europa zu einem Umdenken führen.
Einmal mehr kritisierte Le Maire den Einfluss der Gaspreise auf die Stromkosten in Europa. „Ein europäischer Energiemarkt, in dem der Strompreis an den Preis fossiler Energieträger gekoppelt bleibt, ist absurd“, sagte er.
Die Regeln müssten dringend so geändert werden, dass sich die Strompreise nach den Produktionskosten von emissionsfreien Energien richteten – wozu Frankreich auch die von Deutschland verschmähte Kernkraft zählt.
Die Bundesregierung dagegen bleibt bei der Haltung, die sie seit Monaten vertritt: Eine umfassende Strommarktreform sieht sie ebenso skeptisch wie Pläne für neue Gemeinschaftsanleihen. Die „EU-Schuldenaufnahme muss wie vereinbart eine einmalige Sache bleiben“, heißt es in deutschen Regierungskreisen.
Ähnlich sieht es die niederländische Finanzministerin Sigrid Kaag: „Wichtig ist für uns, dass die Kommission zunächst die existierenden Instrumente einsetzt und das Geld genutzt wird, das bisher nicht abgerufen wurde“, sagte sie jüngst dem Handelsblatt.
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In einem Entwurf der Abschlusserklärung für den Gipfel versucht die EU, die Meinungsverschiedenheiten kunstvoll zu umschiffen. „Konfrontiert mit zunehmender Instabilität, einem strategischen Wettbewerb und Sicherheitsbedrohungen haben wir beschlossen, mehr Verantwortung für unsere Sicherheit zu übernehmen und weitere entscheidende Schritte zum Aufbau unserer europäischen Souveränität zu unternehmen, unsere Abhängigkeiten zu verringern und ein neues Wachstums- und Investitionsmodell für 2030 zu entwerfen“, heißt es in dem Dokument. Es liegt dem Handelsblatt vor.
Doch das klare Sign der Geschlossenheit, das eigentlich von Versailles ausgehen sollte, droht durch die Kontroversen über die Energiewende und die Finanzpolitik getrübt zu werden.
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