Berlin Julian Pahlke hat bewegende Szenen erlebt: Aus der Ukraine flüchtende Menschen, die oft mit nicht mehr als einem Koffer an der polnischen Grenze ankommen. „Sie werden aber von einer beeindruckenden Hilfsbereitschaft empfangen, mit Essen, Kleidung, Transporten weiter nach Polen oder sogar bis Deutschland“, sagt der Grünen-Bundestagsabgeordnete.
Er ist Mitglied im Ausschuss für Inneres und Heimat sowie im Europa-Ausschuss und hat sich am Wochenende selbst ein Bild von der Lage vor Ort gemacht: „Es ist die europäische Solidarität, die ich mir für alle Flüchtenden wünsche.“
Mehr als 1,5 Millionen Menschen sind mittlerweile vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen. Es handele sich um die „am schnellsten anschwellende Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“, schrieb Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi am Sonntag auf Twitter.
Allein an der rund 500 Kilometer langen Grenze zu Polen wurden am Samstag nach Angaben des polnischen Grenzschutzes 129.000 Menschen abgefertigt – so viele wie nie zuvor an einem Tag. Bei der Abfertigung geht es darum, die Identität der Personen zu bestätigen, Dokumente zu überprüfen und in den Datenbanken zu kontrollieren, ob es sich nicht um gesuchte Personen handelt.
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Es wurde erwartet, dass in Polen am Sonntag die Schwelle von einer Million aufgenommenen Geflüchteten überschritten wurde. Knapp 230.000 Menschen haben sich aus der Ukraine nach Rumänien geflüchtet, 163.000 nach Ungarn und 114.000 in die Slowakei.
Die EU-Innenminister hatten am Donnerstag erstmals die infolge der Kriege im früheren Jugoslawien erlassene sogenannte „Massenzustrom“-Richtline aktiviert. Aus der Ukraine Geflüchtete erhalten in EU-Staaten ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht und Zugang zu Sozialleistungen und zum Arbeitsmarkt, ohne dafür ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen.
Doch in Deutschland fühlten sich viele Kommunen und freiwilligen Helfer lange alleingelassen. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums hat die Bundespolizei bislang rund 38.000 Geflüchtete aus der Ukraine registriert. Die tatsächliche Zahl könnte aber höher liegen, da an den Binnengrenzen keine Kontrollen stattfinden und Flüchtlinge aus Polen oder anderen EU-Ländern weitergereist sein könnten.
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Besonders im Fokus stehen Berlin, Dresden, Nürnberg und München. Dort enden Fernzüge aus Polen, Österreich oder Tschechien. Die Deutsche Bahn hat inzwischen auch einen Shuttleverkehr für Geflüchtete zwischen der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt an der Oder und Berlin eingerichtet.
Am Samstag hatte erstmals auch ein Regionalzug der Bahn Menschen aus der Ukraine aus dem polnischen Przemyśl nach Cottbus gebracht. Weitere Züge sollen folgen. In Berlin mahnte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, die Stadt bei der Bewältigung des Zustroms nicht alleinzulassen: „Es geht nur gemeinsam im Second“, sagte die SPD-Politikerin im ZDF-„Morgenmagazin“. „Wir kommen zunehmend an unsere Grenzen.“ Anfangs hätten 45 Menschen untergebracht werden müssen, mittlerweile kämen mehr als 10.000 am Tag.
Am Sonntagmittag twitterte die Berliner Senatsverwaltung, dass Geflüchtete aus der Hauptstadt, die kein festes Ziel in Deutschland hätten, mit Bussen in 13 andere Bundesländer gebracht würden. Bayern und Hamburg sind außen vor. Das Angebot sei freiwillig und es finde keine Registrierung statt.
Politiker mahnen, rasch die Particulars der Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht zu klären, aber auch andere EU-Staaten, die viel mehr Geflüchtete aufgenommen haben, zu unterstützen. „Wir müssen zügig die humanitären Hilfen koordinieren und strukturieren, forderte SPD-Fraktionsvize Detlef Müller.
Die vielen Helfer, die Menschen aus der Ukraine herausholten oder Hilfsgüter ins Land brächten, zeigten die große Solidarität Deutschlands. „Aber die Hilfen müssen jetzt schnell professionalisiert werden.“
Bedürftige erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
Die EU und Deutschland seien gefragt, die Ukraine sowie angrenzende Länder mit humanitärer Hilfe wie Nahrungsmitteln, Infrastruktur, Private und medizinischer Versorgung zu unterstützen, sagte die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Filiz Polat, dem Handelsblatt.
Die Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland erfordere eine enge Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Das betreffe nicht nur Unterkünfte, sondern auch die psychologische Betreuung und den Zugang zu Integrationssprachkursen. „Die Angebote dafür müssen finanziell ausgebaut werden“, sagte Polat.
Ihr Parteikollege Pahlke betont zudem, dass es keine Unterscheidung zwischen Geflüchteten erster und zweiter Klasse und keine „rassistischen Kontrollen“ geben dürfe. „Auch für Geflüchtete ohne ukrainische Staatsbürgerschaft sollte die Möglichkeit einer sicheren Flucht und eines gesicherten Aufenthalts gewährt werden.“ Zudem müssten auch Menschen, die aus politischen Gründen aus Russland fliehen, in Europa Schutz erhalten.
Das Bundesinnenministerium verweist darauf, dass der vorübergehende Schutz nach der EU-„Massenzustrom“-Richtlinie für ukrainische Staatsbürger und deren Familienangehörige sowie für Personen aus Drittstaaten gelte, die in der Ukraine einen Schutzstatus hatten oder sich dort rechtmäßig aufgehalten haben, beispielsweise als Studierende.
Der Antrag auf vorübergehenden Schutz muss bei der für den jeweiligen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde gestellt werden. Bedürftige Personen, die in einer Aufnahmeeinrichtung oder bei einer Ausländerbehörde registriert wurden, erhalten Unterstützung und medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
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