Paris Emmanuel Macron hat in der vergangenen Woche noch ein letztes Mal versucht zu trennen, was kaum voneinander zu trennen ist: Als Präsident wandte er sich in einer Fernsehansprache an die Franzosen, um sie auf die drohenden geopolitischen und wirtschaftlichen Verwerfungen durch den Krieg in der Ukraine einzustimmen. 24 Stunden später bestätigte der Parteipolitiker Macron in einem Brief an seine Landsleute, dass er sich bei der Wahl im April um eine zweite Amtszeit bewirbt: „Ich bin Kandidat, um unsere Werte zu verteidigen, die von den Wirren der Welt bedroht sind.“
Am Freitag um 18 Uhr endete die Frist für die Präsidentschaftsbewerber, bis zu der sie ihre Ambitionen offiziell und beim Staatsrat eine Liste von mindestens 500 gewählten Amtsträgern einreichen müssen, die ihre Kandidatur unterstützen. Das Kandidatenfeld steht fest, der Wahlkampf geht in die entscheidenden Wochen. Die politische Debatte kreist aber nicht mehr um die Coronapolitik, den hitzigen Streit um muslimische Einwanderer und den angeblichen Verlust nationaler Identität oder die wirtschaftliche Bilanz Macrons. Es herrscht Krieg.
„Die internationale Politik findet sich im Zentrum des Präsidentschaftswahlkampfes wieder“, analysiert Gilles Finchelstein, Chef des Thinktanks Fondation Jean-Jaurès, „das ist eine seit sehr langer Zeit nicht da gewesene Scenario.“ Die Ereignisse an der östlichen Grenze der Europäischen Union beunruhigen die Franzosen: 72 Prozent fürchten laut einer Umfrage des Instituts Elabe erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen durch den Konflikt.
Macron steht vor einer Gratwanderung: Er ist zugleich Kandidat und Präsident in Kriegszeiten. Der 44-Jährige, der vor fünf Jahren an der Spitze eines neuen Mitte-Bündnisses in den Élysée-Palast einzog, gibt sich in diesen Tagen als Beschützer der Franzosen. Er drängt in Europa in eine Führungsrolle. Er ist der westliche Staatschef, mit dem Russlands Präsident Wladimir Putin zuletzt am häufigsten telefonierte. „Natürlich werde ich wegen der Umstände nicht so Wahlkampf machen können, wie ich es mir gewünscht hätte“, schreibt Macron in seinem Temporary an die Franzosen.
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Schaden dürfte ihm das nicht. Erste Umfragen zeigen, dass Macron von der Unsicherheit der Wähler in der Krise profitieren könnte. „Jede Kritik an den Regierenden in diesem beispiellosen Kontext könnte als illoyaler Akt gesehen werden“, vermutet Pascal Perrineau, Professor an der Pariser Universität Sciences Po. „Es geht um die Rolle Frankreichs und nicht die Emmanuel Macrons.“
Emmanuel Macron kandidiert für zweite Amtszeit
Zwei Tage nachdem die ersten russischen Raketen auf die Ukraine niedergingen, eröffnete Macron die Landwirtschaftsmesse in Paris. Der „Salon de l‘Agriculture“ ist ein Pflichttermin in der französischen Politik, und diesmal kurz vor den Wahlen. Vor einigen Jahren hatte sich Macron dort mit einem Lamm auf dem Arm fotografieren lassen. Die Lage ließ diesmal kein so friedliches Bild zu: „Der Krieg kommt nach Europa zurück“, sagte der Präsident bei seinem Kurzauftritt am 26. Februar vor Bauernvertretern.
Macron hatte bis wenige Tage vor dem russischen Angriffskrieg auf eine diplomatische Lösung gehofft. Immer wieder telefonierte er mit Putin, reiste zu einem mehr als fünfstündigen Gespräch nach Moskau. Macron sehe sich als „Vermittler“, der „seine gesamte Energie“ für die Sicherheit in Europa einsetze, hieß es aus dem Élysée-Palast.
Macrons Imaginative and prescient von „europäischer Souveränität“
Für Macron ging es dabei auch immer um die „Souveränität“ der EU, deren Ratspräsidentschaft Frankreich seit Januar für ein halbes Jahr führt. Seit einer Rede an der Sorbonne, kurz nach seinem Wahlerfolg im Jahr 2017, spricht der französische Präsident davon, dass Europa als eigenständige Macht in der Welt auftreten müsse. Dazu zählen für ihn eine unabhängige Energieversorgung sowie militärische Fähigkeiten. Was anfangs eher als Fantasie belächelt wurde, ist in diesen Wochen erdrückende Realität geworden.
Macrons Vermittlungsversuche scheiterten. Dabei hatte der Élysée-Palast noch in der Nacht vor der Anerkennung der Separatistengebiete im Osten der Ukraine Hoffnung durch Russland verbreiten wollen: Putin und US-Präsident Joe Biden seien auf französische Initiative grundsätzlich zu einem Gipfeltreffen bereit. Inzwischen hat Macron jede Phantasm verloren, im Umfeld des Präsidenten wurde Putin als „paranoid“ beschrieben.
Macron will jedoch die regelmäßigen Telefongespräche mit Putin fortsetzen, um Chancen für einen Waffenstillstand und eine politische Lösung auszuloten. Und das auch im zeitintensiven Wahlkampf. Ein ranghoher Berater sagte: „Der Präsident hält es für absolut erforderlich, weiter im Kontakt zu bleiben, um das Schlimmste zu verhindern.“
So berichtet das Handelsblatt aktuell zum Ukraine-Krieg:
Zugleich scheint Macron mehr denn je entschlossen, die Idee einer „europäischen Souveränität“ in allen Bereichen voranzutreiben.. „Wir können nicht mehr von anderen abhängig sein, insbesondere beim russischen Gasoline, um uns fortzubewegen, zu heizen oder unsere Fabriken am Laufen zu halten“, erklärte Macron in seiner Ansprache zum Ukrainekrieg. Er forderte erneut den Aufbau einer „europäischen Verteidigung“. Die Themen stehen bei einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU am Donnerstag und Freitag dieser Woche in Versailles ganz oben auf der Agenda
Die Franzosen stimmte Macron auf die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs ein. „Unsere Landwirtschaft, unsere Industrie, mehrere wirtschaftliche Bereiche leiden und werden leiden“, sagte er. Im Alltag werde sich die Krise an den Benzinpreisen und der Gasrechnung zeigen. Er wolle die Franzosen aber – so weit es gehe – vor den Auswirkungen schützen. Ein klares Bekenntnis gab Macron auch dazu ab, Flüchtlinge aus der Ukraine in Frankreich aufzunehmen.
Hängepartie bis zur Kandidatur
Die Eskalation der Krise verdeutlicht auch, warum Macron die offizielle Erklärung seiner Kandidatur immer wieder verschoben hatte. Dass er zu eine zweiten Amtszeit antreten würde, galt als offenes Geheimnis. Seit dem vergangenen Herbst schwang bei seinen Projekten immer auch ein bisschen Wahlkampf mit. So konnte der Plan „France 2030“, ein 30 Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm für den grünen und digitalen Umbau der Wirtschaft in den kommenden Jahren, durchaus als wirtschaftspolitisches Programm für eine mögliche zweite Amtszeit aufgefasst werden.
Anfang des Jahres bekannte Macron in einem Interview, er verspüre „Lust“, noch einmal zu kandidieren. Bereits Ende November hatten sich die Parteien des regierenden Mitte-Bündnis in Paris versammelt, darunter auch Macrons „La République en Marche“. Unter dem Namen „Ensemble Citoyens!“ („Bürger, gemeinsam!“) gaben sie das Ziel aus, im Wahljahr erneut die Mehrheit zu erringen. Vertraute des Präsidenten bereiteten in der Nähe des Parteisitzes im achten Pariser Arrondissement diskret die Kampagne vor.
Öffentlich erklärte Macron dagegen auf Fragen nach seinem Kandidatenstatus, dass die „aktuelle geopolitische Krise“ seine volle Aufmerksamkeit erfordere. Die Opposition verlor zwischenzeitlich die Geduld und warf Macron vor, einen Schattenwahlkampf auf Staatskosten zu betreiben. Inzwischen dürfte sich nicht nur Macron in seiner Einschätzung bestätigt sehen, sich „bis zur letzten Viertelstunde“ auf die Aufgaben als Präsident zu konzentrieren.
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Die Regierung ist in der Krise bemüht, den Eindruck nationaler Einheit zu vermitteln. Premierminister Jean Castex rief bei einer Rede in der Nationalversammlung die Abgeordneten auf, „mit Geschlossenheit“ auf die Herausforderungen durch den russischen Angriffskrieg zu reagieren. Castex empfing die anderen Präsidentschaftskandidaten in seinem Amtssitz, um Erkenntnisse zur aktuellen Lage zu teilen und das Vorgehen der Regierung zu erläutern.
Macrons wichtigste Herausforderer haben ein Russlandproblem – allen voran Marine Le Pen, die laut Umfragen zuletzt die größten Chancen auf die Teilnahme an einer Stichwahl hatte. Die Rechtspopulistin, die Macron bereits 2017 in der zweiten Wahlrunde unterlag, muss ihre Putin-Nähe erklären. Ihre Partei Rassemblement Nationwide, die frühere Entrance Nationwide, erhielt vor einigen Jahren einen Millionenkredit einer russische Financial institution. Im Wahlkampf 2017 ließ Le Pen sich bildstark von Putin im Kreml empfangen.
Russland-Drawback der Macron-Herausforderer
Wie Le Pen zeigte auch der Rechtsnationalist Éric Zemmour in den vergangenen Wochen viel Verständnis für Russlands angebliche Sicherheitssorgen gegenüber dem Westen, auch wenn letztlich beide Putins Kriegsführung in der Ukraine kritisierten. Eine ähnlich ambivalente Haltung gegenüber Moskau nahm der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon ein, der als einziger Vertreter des zersplitterten linken Lagers in den Umfragen derzeit auf mehr als zehn Prozent kommt.
Valérie Pécresse, die Kandidatin der konservativ-bürgerlichen Republikaner, vertritt wie Macron eine harte Haltung gegenüber Moskau und unterstützt die Sanktionen der EU. Allerdings bescherte ihr Parteifreund François Fillon, einst Premierminister unter Präsident Nicolas Sarkozy und gescheiterter Kandidat der Republikaner bei der Wahl 2017, ein Imageproblem: Fillon trennte sich nur widerwillig von seinen russischen Aufsichtsratsmandaten.
Nach Ansicht von Thinktanker Finchelstein illustriert der Ukrainekrieg tiefgreifende Veränderungen im politischen Koordinatensystem der Fünften Republik Frankreichs. Es gebe eine „Erosion des Konsens bei internationalen Fragen“. Eine zentrale Konfliktlinie verlaufe nun zwischen Kandidaten, die sich vom Westen ab- und tendenziell zu Russland hinwenden würden.
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Die Debatte rund um den Ukrainekrieg werde ebenfalls zum Check, wie glaubwürdig und präsidiabel ein Kandidat wahrgenommen werde. „Vor dem Krieg hatte Macron bei diesen beiden Kriterien bereits einen substanziellen Vorsprung gegenüber seinen Gegnern“, so Finchelstein. Das habe sich vor dem Hintergrund der Krise noch verfestigt.
Meinungsforscher sehen Macron sowohl für die erste Runde am 10. April als auch für die Stichwahl zwei Wochen später als klaren Favoriten. In seinem ersten Wahlkampfvideo, das am Wochenende veröffentlicht wurde, warnte der Präsident seine Anhänger allerdings: Der Ausgang sei trotz der guten Umfragewerte „keineswegs geritzt“. In den kommenden Wochen werde er „überzeugen, vorschlagen, attackiert werden und sich der Kontroverse stellen“.
Seine erste große Wahlkampfkundgebung soll kommenden Samstag in Marseille stattfinden. Eigentlich hatte Macrons Crew diesen Termin eine Woche früher anvisiert – dann aber verschoben, wegen der Ukraine.
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