Berlin Kurz vor dem Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt haben sich die 16 Bundesländer auf ein eigenes Konzept für die künftige Flüchtlingsfinanzierung geeinigt. Darin fordern sie ein Pro-Kopf-Abrechnungssystem für ankommende Schutzsuchende. Das geht aus dem Entwurf einer Beschlussvorlage der Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien für das Treffen der Ministerpräsidenten mit Kanzler Olaf Scholz am Mittwoch im Kanzleramt hervor, der dem Handelsblatt vorliegt.
Die Länder gehen damit auf Konfrontationskurs zur Bundesregierung, die eine Pro-Kopf-Pauschale zur Abrechnung der Flüchtlingskosten bereits mit dem Hinweis abgelehnt hat, dass im Bundeshaushalt kein Spielraum für weitere Hilfen sei. Ihr Hauptargument: Den Ländern und Gemeinden gehe es insgesamt finanziell besser als dem Bund.
In dem an das Bundeskanzleramt übermittelten Papier machen die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder indes deutlich, dass es sich bei den Migrationsbewegungen der letzten Jahre um eine „dauerhafte Entwicklung handelt“ und die Länder und Kommunen angesichts der großen Herausforderungen „mehr Planungssicherheit“ bräuchten. Daher bedürfe es „eines Finanzierungsmodells, das der Höhe nach angemessen ist und sich verändernden Flüchtlingszahlen anpasst (atmendes System)“, heißt es in dem am Montagabend beschlossenen Entwurf.
Konkret sprechen sich die Ministerpräsidenten für eine Rückkehr zum sogenannten Vier-Säulen-Modell aus, dass es bis Ende 2021 gab. Die Länder fordern demnach eine allgemeine monatliche Pro-Kopf-Pauschale für die Unterbringung und Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Eine konkrete Summe nennen sie nicht. Jedoch war in einem Papier der Finanzministerkonferenz am Sonntag eine Pauschale in Höhe von rund 1000 Euro genannt worden.
Zudem soll der Bund die vollständige Kostenerstattung für Unterkunft und Heizung für Geflüchtete tragen und sich an den Kosten für die Integration aller Geflüchteten und für unbegleitete Minderjährige stärker beteiligen. Die vom Bund im November 2022 zugesagten 2,75 Milliarden Euro für Geflüchtete aus der Ukraine und Flüchtlinge aus anderen Ländern würden den steigenden Flüchtlingszahlen nicht gerecht, heißt es in dem Länderpapier.
Wirtschaftsweiser Truger befürwortet Pro-Kopf-Pauschale
Die Regierungschefs begründen ihre Forderungen mit den Zugangszahlen von Schutzsuchenden aus anderen Staaten als der Ukraine, die seit 2019 – dem letzten Jahr vor der Corona-Pandemie – um etwa 50 Prozent gestiegen seien. Die aktuell Zuflucht suchenden Menschen kämen dabei nicht nur aus der Ukraine, sondern zunehmend aus anderen Drittstaaten. „Die Asylerstanträge haben in den ersten vier Monaten des Jahres 2023 um 78,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zugenommen“, konstatieren die Länder.
>> Lesen Sie auch: Hessens Ministerpräsident fordert Pro-Kopf-Abrechnungssystem für Flüchtlingskosten
Dessen ungeachtet hatte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin betont, dass der Bund bereits einen erheblichen Teil der Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland trage. „Richtig ist, dass die Kommunen vor finanziellen Herausforderungen stehen“, sagte Hebestreit. Für deren Finanzsituation trügen aber die Länder die Verantwortung, direkte Finanzbeziehungen zwischen Bund und Kommunen seien rechtlich nicht vorgesehen. „Insofern kann der Bund da auch nur bedingt helfen.“
Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang stellte sich an die Seite der Länder und Kommunen und äußerte die Hoffnung, dass die Regierung niemanden hängen lassen wolle. Am Ende werde es „wahrscheinlich auch um eine finanzielle Beteiligung des Bundes gehen“.
Der Co-Sprecher der SPD-Linken, Sebastian Roloff, erklärte hingegen, es müsse zwar regelmäßig überprüft werden, ob eine zusätzliche Unterstützung für die Kommunen nötig sei. „Ich sehe jetzt aber nach Jahren der Mittelaufstockung durch den Bund die Länder in besonderer Verantwortung“, sagte der Bundestagsabgeordnete dem Handelsblatt. „Die Länder hatten zu großen Teilen Haushaltsüberschüsse verzeichnet.“
Der Wirtschaftsweise Achim Truger unterstützt indes die Forderung nach einer Pro-Kopf-Pauschale für die Flüchtlingsfinanzierung. „Es hilft nichts, vorzurechnen, wie viel der Bund schon zahlt, denn es geht ja darum, ob die Zahlungen jetzt und in Zukunft bedarfsgerecht sind oder nicht“, sagte Truger dem Handelsblatt. „Vermutlich wären Pauschalen je Geflüchteten sinnvoll, denn dann müsste in Zukunft nicht immer wieder neu verhandelt werden.“
DIW-Chef Fratzscher kritisiert „unwürdiges Feilschen“ um Geld
Dass der Bund auf seine schwierige Haushaltslage hinweist, findet Truger wenig überzeugend. Denn die finanziellen Engpässe im Bundeshaushalt resultierten daraus, dass der Bund seine „Stabilisierungsaufgabe“ in den Krisen wahrgenommen habe. „Zudem ist die angespannte Haushaltslage ja bewusst politisch herbeigeführt worden, indem schon 2023 wieder zur Regelgrenze der Schuldenbremse zurückgekehrt wurde und die kalte Progression sogar überausgeglichen wurde“, erklärte der Ökonom. „Damit hat der Bund sich selbst um wichtige Spielräume gebracht, die für einen schrittweisen Ausstieg aus der Krisenpolitik notwendig gewesen wären.“
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sprach mit Blick auf den Bund-Länder-Streit von einem „unwürdigen Feilschen“ auf dem Rücken aller Bürgerinnen und Bürgern in den Kommunen. Es müsse jetzt dringend eine Lösung gefunden werden, der Gipfel dürfe nicht scheitern.
„Kurzfristig sollten Bund und Länder sich die Kosten für die Versorgung und Integration der Geflüchteten teilen, wobei der Bund den größten Teil der Last tragen sollte, da er mehr Möglichkeiten hat, über Steuererhöhungen die zusätzlichen Kosten zu finanzieren“, sagte Fratzscher dem Handelsblatt.
Zur Begründung wies er darauf hin, dass sich für viele Kommunen die finanzielle Notlage durch Pandemie und Energiekrise weiter verschärft habe und sie ihre Aufgabe der Daseinsvorsorge immer schlechter erfüllen könnten. „Die finanzielle Notlage der Kommunen wird sich durch Inflation und deutliche Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst weiter verschärfen“, so Fratzscher. Daher sei zudem eine Reform des Länderfinanzausgleich mit dem Ziel notwendig, Kommunen dauerhaft finanziell besser auszustatten.
Mehr: Bundesregierung gibt dieses Jahr 27 Milliarden Euro für Flüchtlingskrise aus