Ursula von der Leyen ist Präsidentin der Europäischen Kommission, Charles Michel ist Präsident des Europäischen Rates, Christine Lagarde ist Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Paschal Donohoe ist Präsident der Euro-Gruppe, Werner Hoyer ist Präsident der Europäischen Investitionsbank (v.l.)
(Foto: Imago, dpa)
Die Europäische Union ist entschlossen, den grünen und den digitalen Wandel voranzutreiben. Was wir heute entscheiden, wird sich auf die kommenden Generationen auswirken. Es liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung, das Richtige zu tun.
Die Schaffung einer klimaneutralen Wirtschaft, die Steigerung der technologischen Wettbewerbsfähigkeit und die Diversifizierung der Lieferketten werden für den anhaltenden Wohlstand und die strategische Souveränität Europas in den kommenden Jahrzehnten von allergrößter Bedeutung sein.
Der Finanzierungsbedarf ist enorm, und der Löwenanteil muss aus privatem Kapital kommen.
Die Rolle öffentlicher Investitionen besteht darin, die politische Richtung zu weisen und Anreize für die massive Einbindung von privatem Kapital zu schaffen, unter anderem – aber nicht ausschließlich – durch die Beteiligung der Europäischen-Investitionsbank-Gruppe und nationaler Förderbanken.
Der Binnenmarkt hat seit seiner Gründung vor 30 Jahren den Wohlstand Europas befördert, indem Hindernisse für den Handel innerhalb der Union beseitigt und ausländische Investitionen angezogen wurden, und die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein weiterer Motor für die Marktintegration.
Unternehmen in der EU brauchen Kapitalgeber für den grünen und digitalen Wandel
Aber bei einem Kernbaustein waren wir zu lange zu zögerlich: bei der Kapitalmarktunion. Bislang stellen die Banken in Europa den Großteil der Investitionsfinanzierungen. Sie allein können der EU jedoch nicht dazu verhelfen, den weltweiten Investitionswettlauf zu gewinnen, insbesondere gegenüber den USA.
In der EU erfolgt die externe Unternehmensfinanzierung zu 75 Prozent über Bankdarlehen und zu 25 Prozent über die Anleihemärkte – in den USA ist genau das Gegenteil der Fall. Unsere Start-ups und Scale-ups sind auf der Suche nach Kapital.
Unternehmen, insbesondere kleine und mittelständische, haben große Schwierigkeiten, die langmütigen und risikobereiten Kapitalgeber zu finden, auf die sie für Investitionen in den grünen und den digitalen Wandel angewiesen sind.
So ist etwa die Börsenkapitalisierung der EU gemessen in Prozent der Wirtschaftsleistung nicht einmal halb so hoch wie in den Vereinigten Staaten und bleibt auch hinter derjenigen Japans, Chinas und des Vereinigten Königreichs zurück. Allerdings haben die Europäer viel höhere Ersparnisse als die Amerikaner.
>> Lesen Sie auch: Die EU sollte als Antwort auf den IRA die Kapitalmarktunion beschleunigen
Es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass europäische Unternehmen die gesuchten Finanzierungsmöglichkeiten finden – und zwar hier, in der EU. Wir brauchen eine Kapitalmarktunion, in der die enormen Ersparnisse in Europa den Wachstumsmotoren von morgen zugeleitet werden.
Um deren Potenzial voll auszuschöpfen, müssen wir den derzeitigen Flickenteppich aus nationalen Rahmenregelungen und in einigen Fällen unentwickelten Kapitalmärkten hinter uns lassen. Auf diese Weise wird die EU als Investitionsstandort gestärkt und der Euro zu einer noch attraktiveren Währung werden.
Eine echte Kapitalmarktunion ist in Reichweite
Die EU hat zur Schaffung eines Binnenmarkts für Kapital bereits einige entscheidende Schritte unternommen. Dennoch müssen wir unsere Anstrengungen und unsere Ambitionen verstärken, um die verbleibenden Hindernisse im grenzüberschreitenden Finanzgeschäft zu beseitigen und eine weitere Harmonisierung zu ermöglichen.
Dazu gehören ein einheitlicheres Insolvenzrecht, leichter zugängliche Finanzinformationen, ein vereinfachter Zugang zu den Kapitalmärkten, insbesondere für kleinere Unternehmen, robuste Marktinfrastrukturen und eine stärker integrierte Kapitalmarktaufsicht.
Die Vertiefung der Kapitalmarktunion erfordert gemeinsame Anstrengungen, an denen politische Entscheidungsträger und Marktteilnehmer in der gesamten Union beteiligt sind. Es bedarf eines starken politischen Willens und der Eigenverantwortung auf allen Regierungsebenen.
Es bedarf zügiger Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten im Rat über wichtige Rechtstexte, die dringend zum Abschluss kommen müssen. Es bedarf des Mutes und der Offenheit für Veränderungen. Wir sind entschlossen, schnell voranzukommen.
Die Zeit drängt. Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten bei der finanziellen Integration Europas beeindruckende Fortschritte erzielt, aber es ist an der Zeit, mehr Ehrgeiz zu zeigen. Eine echte Kapitalmarktunion ist in Reichweite.
In den kommenden Jahrzehnten wird sich der größte industrielle Wandel unserer Zeit vollziehen. Er wird über unsere langfristige Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. Sorgen wir also dafür, dass wir über das dafür notwendige Kapital verfügen!
Die Autoren: Paschal Donohoe ist Präsident der Euro-Gruppe. Werner Hoyer ist Präsident der Europäischen Investitionsbank. Christine Lagarde ist Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Ursula von der Leyen ist Präsidentin der Europäischen Kommission. Charles Michel ist Präsident des Europäischen Rates.
Mehr: Clearing, Börsengänge, Insolvenzrecht – Mit drei Reformen will die EU die Kapitalmärkte stärken