Historiker warnt vor Putin
„Wir befinden uns in einer Vorkriegssituation“
11.11.2024 – 00:26 UhrLesedauer: 3 Min.
Der Russlandexperte Karl Schlögel warnt den Westen vor einer dramatischen Entwicklung. Er vergleicht die gegenwärtige Lage mit dem Vorabend des Zweiten Weltkriegs.
Karl Schlögel ist einer der renommiertesten Osteuropa-Experten unserer Zeit. Kaum jemand kennt die Region so gut wie der heute 78-jährige Professor, der schon zu Studienzeiten durch die damalige Tschechoslowakei und die Sowjetunion reiste. Schlögel studierte eine Zeit lang in Moskau, brachte den Deutschen später mit seinen zahlreichen Büchern die Geschichte, Kultur und Mentalität Osteuropas nahe.
Nun warnt der Historiker vor einer wachsenden Kriegsgefahr durch die vielfältigen Bedrohungen, außen- wie innenpolitisch, denen der Westen derzeit ausgesetzt ist. „Wir befinden uns in einer Vorkriegssituation, die, ohne in eine Analogie zu verfallen, viel mit den 1930er Jahren zu tun hat“, sagte er der „Rheinischen Post“. Auch damals habe sich etwas aufgebaut, was man wohl ahnen, aber noch nicht so genau abschätzen konnte. In der Weltpolitik krache es derzeit heftig „im Gebälk“, so Schlögel. Der Krieg in der Ukraine sei dabei einer der größten Prüfsteine für die demokratisch regierten Staaten.
„Die Frage ist doch, ob wir aktuell den Gefahren ins Auge schauen oder ob wir einknicken und kapitulieren werden. Ich hätte nie gedacht, dass ein solcher Ernstfall eintreten würde und wir in die Situation einer so harten Prüfung geraten werden“, so Schlögel.
Nach seinen Worten sei es dabei völlig offen, wie Europa sich behaupten wird. Es gebe aber durchaus Hinweise darauf, dass dieses Europa viel stärker sei, als es derzeit erscheint. Zwar glaube er nicht, dass der künftige US-Präsident Donald Trump die Ukraine fallen lassen wird, weil das eine Preisgabe all dessen wäre, wofür Amerika nach Schlögels Meinung steht. Doch werde sich nach den Worten des 76-Jährigen „selbstverständlich etwas ändern“. Die Frage sei nur, wie man sich darauf einstellt.
„Amerika wird nicht mehr allein die Bürde der Verteidigung des Westens und der Unterstützung für die Ukraine tragen. Es wird also eine Neuverteilung der Lasten geben. Genau das kommt auf Europa und auf Deutschland zu.“ Aber das sei wenig überraschend, sondern letztlich eine Situation, auf die man sich schon viel früher hätte einstellen können.
Der Historiker hat schon früh davor gewarnt, den russischen Machthaber Wladimir Putin zu unterschätzen. Dieser sei ein „KGB-geschulter Machtmanager“, ein „Sadist“, ein „imperialer Träumer und postmoderner Cyberkrieger“, der die Europäer mit großer „Meisterschaft auseinanderzudividieren versucht“.
Schlögel fordert daher die Politiker westlicher Demokratien auf, sich auf diesen „neuen Führertypus“ einzustellen. Das gelinge diesen aber bislang nicht so recht. Daher zieht Schlögel immer wieder Parallelen zur Situation in den 1930er-Jahren, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Auch damals habe es die Situation „einer analytischen, intellektuellen und wahrscheinlich auch politischen Überforderung“ gegeben.
Dem Westen attestierte Schlögel dabei schon vor geraumer Zeit, angesichts der russischen Bedrohung, „nichts im Griff zu haben“. Er attestiert den säkularen Gesellschaften des Westens und ihren Politikern „innere Widersprüche“ und „selbstzerstörerische Entwicklungen“, unter anderem „die Bereitschaft zur Selbstpreisgabe, Appeasement und Kapitulation vor der rohen Gewalt.“
Für Schlögel, der am 25. November in Düsseldorf den mit 100.000 Euro dotierten Preis der Gerda-Henkel-Stiftung bekommt, ist der auch in Europa aufkommende Populismus ein sehr ernst zu nehmendes Symptom: „Wenn der Wille der Wähler zu einem Erstarken der Demagogen und Polarisierer auf der linken oder auch rechten Seite führt, dann bedeutet das, dass an der Funktionsweise der Demokratie irgendetwas nicht stimmt.“