Wien, Paris, Madrid, Stockholm, Rom Eigentlich sind es erfreuliche Nachrichten, die Europas Statistikamt am Dienstag veröffentlichte: Die Arbeitslosigkeit in der Euro-Zone sinkt mit sieben Prozent auf ein neues Rekordtief, in der EU sind es nur noch 6,4 Prozent – und das mitten in der Pandemie. Die Zahlen für Dezember 2021 bedeuten aber auch: Es gibt immer weniger Menschen, um die offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt zu besetzen. Fast alle Länder in Europa beklagen einen immensen Fachkräftemangel.
Auf dem ganzen Kontinent fehlen Ingenieure, Softwareentwickler und Informatikexperten. In vielen Ländern werden aber auch händeringend Handwerker, Pflegekräfte und Mitarbeiter in Hotellerie und Gastronomie gesucht.
Doch Not macht erfinderisch. Und so entstehen in Europa neue Konzepte, um die Joblücke zu schließen. Was kann Deutschland von anderen Staaten lernen?
Schweden etwa braucht dringend IT-Experten. Vor allem Unternehmen wie der Musikstreamingdienst Spotify oder die Gaming-Industrie suchen Spezialisten. Im IT-Bereich rechnet man mit etwa 70.000 Fachkräften, die in den kommenden Jahren zusätzlich benötigt werden.
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Besonders qualifizierte Fachkräfte, auch aus dem Ausland, versucht Schweden mit einer „Expertensteuer“ zu gewinnen: Unter gewissen Voraussetzungen, etwa einem Monatsgehalt von mindestens 9000 Euro oder speziellen Qualifikationen, müssen die Fachkräfte in den ersten drei Jahren ihrer Anstellung nur 75 Prozent des Gehalts versteuern. Der Bedarf ist so groß, dass viele Firmen Programmierer gar nicht mehr nach Schweden holen, sondern ukrainische Fachleute direkt in Kiew beschäftigen.
Bei Entwicklern ist die Distanzarbeit möglich, bei medizinischem Private – ein weiterer Bereich mit vielen offenen Stellen – funktioniert das nicht. Hier versucht das Land, Arbeitskräfte vor allem aus Osteuropa anzulocken. Dazu bietet es Hilfe bei der Wohnungssuche, Fortbildungen und andere Vergünstigungen. Ein Mindestgehalt, das eine ausländische Fachkraft verdienen muss, gibt es nicht.
Französische Konzerne werben auf Tiktok und bei Jobdatings
Auch in Frankreich fehlen in quick allen Branchen Arbeitskräfte, seitdem die Wirtschaft nach den Lockdowns wieder floriert, nicht nur in der Elektromechanik oder im Entwicklerbereich. Lodges und Krankenhäuser klagen genauso über fehlendes Private wie Altenheime, Skipistenbetreiber und Handwerksbetriebe.
Allein bei Lkw-Fahrern sind bis zu 50.000 Stellen offen. Einige Supermärkte mussten schon ihre Fleischtheken schließen, weil sich niemand findet, der noch am Wochenende arbeiten will.
Besonders auf dem Bau ist die State of affairs angespannt, hier gibt es in 70 Prozent der Fälle Probleme bei der Rekrutierung. Seit Corona wollen immer mehr Leute im Homeoffice arbeiten, das macht Berufe ohne Dauerpräsenz attraktiver.
Dem Arbeitsamt zufolge haben selbst große Unternehmen, die attraktive Bedingungen bei Gehalt oder Urlaub bieten, immer mehr Schwierigkeiten, Fachkräfte zu bekommen. Bis zu 900.000 freie Posten gibt es im ganzen Land. Die Arbeitslosenquote liegt mit 7,4 Prozent auf dem niedrigsten Stand seit zehn Jahren.
Immer mehr Unternehmen in Frankreich suchen Arbeitskräfte mit Movies auf der sozialen Plattform.
(Foto: NurPhoto/Getty Photographs)
Gewerkschaften und Arbeitgeber denken mittlerweile um, bieten Jobdatings an und veranstalten Recruiting-Konferenzen. Große Unternehmen wie die staatliche Bahn oder Banken bieten Kurzpraktika an, um in Jobs hineinzuschnuppern. Statt klassischer Stellenausschreibungen posten Firmen zunehmend auch Jobvideos bei Tiktok. Immer mehr Begin-ups spezialisieren sich auf die Hilfe bei der Personalsuche.
Dänemark will Gehaltsgrenze für Ausländer senken
In Dänemark fehlt es vor allem an medizinischem Private und IT-Spezialisten. Um das Land attraktiver für ausländische Fachkräfte zu machen, wird derzeit über eine Senkung des Mindestjahresgehalts gestritten. Momentan muss ein Arbeitgeber ein Jahresgehalt von umgerechnet knapp 60.000 Euro zahlen, damit Nicht-EU-Fachkräfte dauerhaft im Land bleiben dürfen. Die sozialdemokratische Minderheitsregierung möchte den Betrag auf etwas mehr als 50.000 Euro senken, die Oppositionsparteien wollen die Grenze noch tiefer ziehen.
Die Opposition versah ihren Gegenvorschlag allerdings mit einem Zusatz, der für Empörung sorgte: Fachkräfte aus muslimischen Ländern in Nordafrika und dem Nahen Osten soll die Neuregelung nicht umfassen. Regierungsvertreter sprachen von „Rassismus“ und „Diskriminierung“.
Tatsache ist, dass Dänemark bis 2030 rund 100.000 Fachkräfte fehlen – und dass das Land in den vergangenen Jahren mit seiner extrem restriktiven Einwanderungspolitik viele potenzielle Arbeitskräfte abgeschreckt hat.
Das liegt auch an der eher schleichend verlaufenden Anerkennung von Berufsausbildungen. Momentan müssen etwa Ärzte rund 33 Monate auf die Prüfung ihrer Dokumente warten. Und auch dann dürfen sie nicht sofort arbeiten, sondern müssen Sprach- und Qualifikationstests absolvieren. Um den Mangel vor allem im Gesundheitssektor zu mindern, sollen die Prüfzeiten nun verkürzt werden.
Tschechien plant Punktesystem nach kanadischem Vorbild
In Tschechien ist die Arbeitslosenquote so niedrig, dass sie für die Wirtschaft zum Downside geworden ist. Laut Eurostat lag die Arbeitslosenquote im Dezember 2021 bei 2,1 Prozent – der niedrigste Wert in der EU. Nach wie vor hat das Land eine starke Industrie, mit einem hohen Bedarf an Arbeitskräften. „Der Arbeitskräftemangel wird zum limitierenden Faktor für das Wachstum und neue Investitionen“, sagt die Ökonomin Zuzana Zavarska vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche.
Für Tschechien struggle lange Zeit die Ukraine das wichtigste Rekrutierungsgebiet. Aber um Ukrainer wetteifern auch andere Länder, etwa Polen. Die Regierung hat daher bilaterale Verträge mit weiteren Staaten abgeschlossen, welche die Entsendung einer beschränkten Zahl von Arbeitskräften vorsehen. Solche Übereinkünfte gibt es etwa mit osteuropäischen Ländern, aber auch mit Indien oder den Philippinen.
Allerdings kommen auf diesem Wege vor allem Niedrigqualifizierte ins Land. Um weiterzuwachsen und die stark auf Produktion ausgerichtete Wirtschaft zu diversifizieren, braucht Tschechien mehr Spezialisten. „Für diese ist unser Land aber nicht besonders attraktiv“, sagt Dusan Drbohlav, Migrationsspezialist von der Universität in Prag.
Die Regierung prüft deshalb, ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild einzuführen: Die Firmen sollen so einen besseren Zugriff auf hochqualifizierte Arbeitskräfte bekommen.
Spanien pumpt Milliarden ins Bildungssystem
Spanien ist das Land mit der höchsten Arbeitslosenquote (13,0) in der EU – und trotzdem sind derzeit knapp 120.000 Stellen unbesetzt. Das ist der höchste Wert in den vergangenen zehn Jahren. In einer Umfrage der Zentralbank beklagen 27 Prozent der Unternehmen Probleme bei der Stellenbesetzung, und das, obwohl die Erholung der Wirtschaft gerade erst begonnen hat.
Die meisten offenen Stellen gibt es in Branchen mit niedriger Wertschöpfung: in der Landwirtschaft, auf dem Bau, im Gastgewerbe. Zumindest ein Teil des Arbeitermangels ist laut Ökonomen aber zeitlich befristet. „Dieses Ungleichgewicht dürfte nur vorübergehend sein und sich lösen, wenn sich die Migrationsströme erholen“, schreiben die Experten von Caixabank Analysis. Besorgniserregender sei dagegen die „zunehmende Entkopplung“ zwischen Qualifikationen und gesuchten Profilen. In den kommenden Jahren würden verstärkt technische Qualifikationen für Logistik- und Energieexperten, aber auch Datenanalysten gefragt sein.
Die spanische Regierung reagiert auf die Entwicklung mit einer Bildungsreform, die mit Geldern aus dem europäischen Wiederaufbaufonds finanziert wird. Zehn Prozent der 70 Milliarden Euro, die Spanien als nicht rückzahlbare Transfers von der EU erhält, sollen in die Bildung fließen. Dazu gehört etwa die Einführung einer dualen Ausbildung, über die seit Jahren diskutiert, die aber nie in großem Stil realisiert wurde.
Schulen und Universitäten sollen zudem digitalisiert werden, Digital- und Programmierkenntnisse in die Lehrpläne aufgenommen werden. Ende 2021 hat die Regierung darüber hinaus eine Arbeitsmarktreform verabschiedet, die befristete Verträge stark zurückdrängt. Sie machen bislang ein Viertel aller Kontrakte aus. Mit der Reform steigt der Anreiz für Firmen, in die Weiterbildung der Mitarbeiter zu investieren.
Italien setzt auf Tech-Ausbildungen und Kitaplätze
Kaum eine Wirtschaft in Europa wächst derzeit so stark wie die italienische: 6,5 Prozent waren es im vergangenen Jahr. Der Export brummt, die Unternehmen stellen ein – aber mehr als 56 Prozent finden laut der italienischen Handelskammer nicht die gewünschten Fachkräfte. Rund 400.000 Stellen sind unbesetzt, besonders viele im Maschinenbau, in der Elektronik und im Baugewerbe, aber auch im Tourismus und im Handel.
Um dem entgegenzuwirken, will das Land ein spezielles Ausbildungsprogramm ausbauen: die „Istituti tecnici superiori“, die am ehesten mit deutschen Fachhochschulen zu vergleichen sind. In der zweijährigen Ausbildung können die Schwerpunkte auf nachhaltige Mobilität, Energieeffizienz, Informatik oder neue Technologien gelegt werden.
Italien will mehr Geld in technologische Ausbildungsinstitute investieren.
(Foto: DigitalVision/Getty Photographs)
80 Prozent der Absolventen finden innerhalb eines Jahres einen Job, intestine die Hälfte der Dozenten kommt aus Unternehmen, ein Drittel der Ausbildungszeit findet in den Betrieben statt. 104 dieser Institute gibt es bereits im Land, die Zahl soll weiter steigen, auch dank 1,5 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds.
Italien hat zudem eine der niedrigsten Erwerbsquoten bei Frauen: Während rund 68 Prozent der Männer arbeiten, ist es bei Frauen nur knapp die Hälfte. Die Regierung versucht dem mit Familienförderung entgegenzuwirken. Kitas werden massiv ausgebaut, vor Kurzem wurde ein Kindergeld eingeführt. Geringverdiener bekommen monatlich 250 Euro professional Type, bei Topverdienern sind es 50 Euro.
Polen rekrutiert selbst in Nepal und Bangladesch
Polen hat sich zwar während der Flüchtlingskrise von 2015 als vehementer Gegner der Zuwanderung positioniert. „Bei der Arbeitsmigration verfolgt das Land aber eine ultraliberale Politik“, sagt Pawel Kaczmarczyk vom Centre of Migration Analysis der Universität Warschau. So hat die Regierung beispielsweise das „Enterprise Harbour“-Programm geschaffen, das sich besonders an belarussische IT-Fachkräfte richtete, die nicht mehr in ihrer diktatorisch regierten Heimat leben wollten.
In einem zweiten Schritt hat die Regierung das Programm auf weitere Länder ausgeweitet, etwa Georgien, Armenien und sogar Russland. Arbeitsmigranten kommen etwa in den Genuss eines beschleunigten Niederlassungsverfahrens. Viele Polen haben in den vergangenen Jahren das Land verlassen. Die Lücke füllten Einwanderer, vor allem aus der Ukraine. Allerdings sind diese in der Regel nicht so intestine qualifiziert wie die polnischen Auswanderer. Non-public Vermittlungsfirmen suchen daher ständig in neuen Ländern nach potenziellen Arbeitskräften: mittlerweile schon in Nepal, Bangladesch und auf den Philippinen.
Mehr: Ausländische Studenten – das ungenutzte Potenzial für Deutschlands Arbeitsmarkt