Düsseldorf Wenn du eine souveräne Kolonie auf dem Mond einrichtest, bist du dann Kolonialist? Nun, es kommt wohl ganz darauf an. Entscheidend ist, wie andere Länder deinen Vorstoß bewerten. Fehlt dir die Zustimmung des restlichen Globus, findet etwa Dmitrij Rogosin, Chef der russischen Weltraumbehörde, klare Worte. Dann sei es eine „Invasion“. Und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, was folgt, betont er: Das kann schnell „ein Afghanistan oder ein neuer Irak“ werden.
„Willkommen in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts“, schreibt Marshall in seinem aktuellen Buch: „Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert“. Im Untertitel verrät er sein methodisches Vorgehen. Anhand von zehn Karten in zehn Kapiteln will er seinen Lesern die Politik von heute und die Krisen der Zukunft erklären – ein nicht eben bescheidenes Vorgehen.
Doch Marshall ist nicht nur ein gefeierter Autor. Als Auslandskorrespondent etwa für die Fernsehsender BBC oder Sky Information berichtete er aus mehr als 40 Ländern dieser Erde und stellte sich zahlreichen auch für einen Berichterstatter kritischen Situationen in den Krisengebieten rund um die Welt.
In seinem neuen Buch lässt er seine Leser auf eine Welt blicken, in der die Ära des Kalten Krieges mit ihrem sauber zweigeteilten Machtgefüge längst eine ferne Erinnerung ist. Heute sind die Kräfteverhältnisse ungleich verwirrender – wie gerade im Ukrainekonflikt zu beobachten.
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So stehen sich im Nahen Osten die „gewaltige Festung“ des Irans und „seine Nemesis Saudi-Arabien am Persischen Golf gegenüber“. Im Indopazifik sieht sich Australien gefangen zwischen den Großmächten USA und China, im Mittelmeer befinden sich Griechenland sowie die Türkei in einem Dauerkonflikt, und die Lebensbedingungen in der Sahelzone beeinflussen auch die europäische Innenpolitik, spätestens wenn sich Flüchtlingsströme in Bewegung setzen.
Tim Marshall: Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert.
Übersetzung: Lutz W. Wolff.
dtv Verlagsgesellschaft
München 2021
416 Seiten
24 Euro
Doch während Politiker kommen und gehen, gibt es weltweit Rahmenbedingungen, die unveränderlich sind. Sich im Verlauf des Buchs geführt von Marshall in Landkarten zu vertiefen, den Verlauf von Gebirgen, Flüssen, Meeren, aber auch Flughäfen, Pipelines oder Eisenbahnen aufmerksam zu betrachten ist daher lohnenswert. Denn genau in dieser Geographie, so argumentiert der Autor, sind die großen internationalen Konflikte des 21. Jahrhunderts heute schon angelegt.
Marshall ist kein Hardliner in seinen Argumentationen, was den Fokus auf die Geographie angeht. Mindestens ebenso informativ und bisweilen kurzweilig sind seine Ausflüge in die Geschichte und die Politik einzelner Nationen.
Bestechend klar allerdings bleibt sein Ausgangspunkt – ein Land im Verhältnis zu seinen Nachbarn, den Seewegen, Bodenschätzen und anderen Ressourcen zu betrachten. Auf diese Weise sorgt der Autor für globalen Überblick und bietet zudem Denkanstöße für Konfliktlösungen an.
Bei all dem ist es bedauerlich, dass die einzelnen Karten im Buch ein wenig lieblos als kleine, graue Skizzen daherkommen. Jeder Schulatlas wäre eine durchaus bessere Foundation zum Verständnis. Eine etwas detailgetreuere, farbigere Umsetzung des Kartenmaterials wäre durchaus wünschenswert gewesen.
Konfliktpotenzial im Weltraum
Dennoch lohnt auch die nähere Betrachtung einer der ungewöhnlichsten Karten im Schlusskapitel des Buchs – kurz mit „Der Weltraum“ überschrieben. Interessant ist der Einblick in die einzelnen sogenannten „Erdorbite“, die nach Kilometerabstand von der Erde eingeteilten Bereiche bis zum Mond. Das sind die heiß begehrten Umlaufbahnen unter anderem für Satelliten.
Da bedarf es keiner großen Fantasie, um sich vorzustellen, wie viel Konfliktpotenzial dort oben in einem noch rechtlich quick ungeregelten Raum lauert – zumal neben Staaten auch non-public Unternehmen wie SpaceX von Elon Musk mitmischen.
Ein noch bedrohlicheres Gefühl schleicht sich ein, wenn Marshall auf die enormen Weltraumressourcen zu sprechen kommt. Es locken die unendlichen Weiten des Alls zum Beispiel mit Asteroid 3554 Amun. Allein er besteht aus Nickel, Kobalt, Eisen und weiteren Metallen im Wert von ungefähr 20 Billionen Greenback.
Somit ist die Gefahrenlage schnell skizziert. Dringlich mahnt Marshall, alle Erdenbewohner vom Weltraumreichtum profitieren zu lassen und keinesfalls auf die Idee zu kommen, die Schätze konkurrierend zu bergen. Dass das ein guter Gedanke ist, sollte spätestens nach dem Schlusskapitel verständlich geworden sein.
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