Brüssel Anfang Februar will die EU-Kommission ihre Standardisierungsstrategie vorlegen – ein Dokument, das für die europäische Exportindustrie große Bedeutung bekommen kann. Denn Europa läuft Gefahr, seine herausgehobene Stellung auf dem Gebiet der Normung zu verlieren. China besetzt immer mehr Posten in den internationalen Gremien, gleichzeitig sind die Europäer langsamer geworden.
Eine europäisch geprägte Norm macht es für hiesige Unternehmen leicht, Produkte in alle Welt zu verkaufen. Andere Normen können Unternehmen dazu zwingen, ihre Produkte aufwendig anzupassen.
„Internationale Requirements zu setzen ist entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der EU“, heißt es in einem Papier der EU-Kommission. Es geht um strategische Interessen in Bezug auf Rohstoffe, Satellitendaten, Batterien, Wasserstoff und Mikrochips.
Außerdem wird befürchtet, dass neue Technologien von der chinesischen Ideologie durchsetzt werden, sei es beim Web der Dinge, bei Künstlicher Intelligenz, neuen Mobilfunknetzen oder Gehirn-Pc-Schnittstellen.
„Die Standardisierung ist unterhalb des Radars der Öffentlichkeit längst zu einem industriepolitischen Thema mit geopolitischer Bedeutung geworden“, sagt der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer. Und die EU-Kommission bescheinigt: „Das Europäische Standardisierungssystem ist derzeit nicht ausreichend ausgestattet für die Standardisierungsbedürfnisse der Zukunft.“
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Die neue Strategie soll nun Abhilfe schaffen, was sich selbstverständlicher anhört, als es ist. Denn bislang hielt sich die Politik aus der Standardisierung möglichst heraus. Die meisten Requirements werden von Unternehmen selbst ausgearbeitet und in Normungsorganisationen miteinander vereinbart. Nur in einem letzten Schritt macht sich die EU einige der Requirements zu eigen.
Diese Kind der Selbstorganisation hat den Handel innerhalb der EU über Jahrzehnte stark gemacht. Sibylle Gabler vom Deutschen Institut für Normung spricht vom „Geheimnis des europäischen Binnenmarkts“. Die EU will nun ihre Place in der Standardisierung festigen, dabei aber nicht zu sehr in das System eingreifen.
Die chinesische Regierung hat weniger Hemmungen. „China hat die Absicht, führend in der Standardisierung zu werden“, sagt Betty Xu, die Chinagesandte der europäischen Normungsorganisationen. Die Führung hilft, chinesische Requirements in die Welt zu tragen, um den Absatz chinesischer Waren zu fördern und Handelspartner an sich zu binden.
Neues europäisches Selbstbewusstsein
Die EU will sich nun auch in diese Richtung bewegen. „Die Standardisierungsstrategie wird ein selbstbewussteres Auftreten für europäische Interessen unterstützen“, sagte ein Kommissionsmitarbeiter dem Handelsblatt.
Ein Drawback dabei ist, dass Normen in einem Geflecht aus nationalen, europäischen und internationalen Normungsorganisationen entstehen, die unterschiedliche Arbeitsweisen haben und in denen sich unterschiedliche Interessen durchsetzen. „Die institutionelle Kohärenz der EU-Normierungspolitik müssen wir stärken“, sagt Bütikofer. „Wir brauchen einen Koordinator in der EU-Kommission, der strategisch wichtige Normungspolitiken im Blick hat und beeinflussen kann.“
Diskutiert wird auch, wie sich der Einfluss chinesischer Unternehmen in der europäischen Normung begrenzen ließe. Im Fokus steht dabei das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (Etsi). Dort kann prinzipiell jedes Unternehmen der Branche Mitglied werden.
Offiziell ist der Anteil chinesischer Mitglieder gering. Doch Huawei etwa ist nicht nur durch seine chinesische Muttergesellschaft, sondern auch durch fünf europäische Tochtergesellschaften vertreten. Auf diese Weise kann der Einfluss höher sein, als es zunächst erscheint.
Chinesische Firmen auszuschließen ist aber keine Possibility, weil es zu Nachteilen europäischer Unternehmen in China führen könnte. Zwar berichten einige deutsche Konzerne von Problemen, sich in China in die Normung einzubringen, andere arbeiten dort aber intestine mit. Sie hätten möglicherweise Gegenmaßnahmen zu befürchten.
Unproblematisch wäre aber, die Rolle von EU-Unternehmen und Institutionen in den Gremien zu stärken. Firmen beklagen, dass sie kaum dabei unterstützt werden, wenn sie sich in die Normungsgremien einbringen. Die Mitgliedschaft dort kostet Geld und vor allem die Zeit der Ingenieure.
Unterstützung vom Bund gibt es nur für Firmen, die neu bei der Normung sind. In China dagegen gibt es etwa Prämien für Unternehmen, die erfolgreich einen Standardisierungsvorschlag eingereicht haben. Ähnliche Anreize ließen sich auch in der EU setzen. „Wir brauchen mehr und schnellere finanzielle Unterstützung, um schnell worldwide wichtige Themen zu besetzen“, sagt Gabler vom DIN.
Unternehmen fehlen Ingenieure
Wahrscheinlich wird auch die Ausbildung Teil der Strategie werden. Studiengänge, die einen Ingenieur zum Normungsexperten machen, fehlen bislang in Deutschland. „Die europäische Normung leidet an einem Fachkräftemangel“, so Gabler. „Die Unternehmen haben oft nicht genug Ingenieure, die sich in den Gremien engagieren können.“
Die Kommission könnte sich darüber hinaus an sogenannten „Roadmaps“ beteiligen. Dabei wird in Bezug auf Zukunftstechnologien erhoben, wo noch Lücken in der Standardisierung sind. Das soll dazu führen, dass die europäischen Unternehmen aktiv werden und diese Lücken füllen, bevor es jemand anderes tut.
In Deutschland gibt es eine solche Roadmap für Künstliche Intelligenz, künftig könnte es zum Beispiel auch eine zum Thema Wasserstoff geben. So zieht die Politik die Normung zwar nicht an sich, überlässt sie aber auch nicht dem Zufall.
Bütikofer sagt, das EU-Standardisierungssystem sei nicht hinreichend ausgestattet.
(Foto: dpa)
Ob die EU versuchen sollte, die Geschwindigkeit der Normung zu erhöhen, ist umstritten. 27 Monate dauert das Erlassen einer europäischen Norm durchschnittlich. In China sind es 24 Monate, nun strebt das Land 18 Monate an. Doch ein zu großer Zeitdruck auf die Unternehmen könnte auch dazu führen, dass sich einige nicht mehr am Prozess beteiligen. Letztlich könnte darunter die Qualität der Requirements leiden und damit auch ihre Akzeptanz.
Allerdings ist es auch die EU-Kommission selbst, die für Verzögerungen sorgt. Im Mai forderten 17 Mitgliedstaaten die Kommission auf, fertige Requirements schneller im Amtsblatt zu veröffentlichen.
Während Europa und China um die Vorherrschaft in der internationalen Normung ringen, macht Peking daheim oft seine eigenen Regeln, an die sich Europäer anpassen müssen, wenn sie im chinesischen Markt aktiv sein wollen. In vielen Fällen können sich die Europäer dabei aber einbringen. „Ich empfehle europäischen Unternehmen dringend, sich bei der Ausarbeitung chinesischer Normen für ihre Interessen einzusetzen“, sagt die Gesandte Xu.
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