Angesichts gewalttätiger Terroranschläge in Deutschland wurde ein „Nationaler Gedenktag“ ins Leben gerufen. Die Angehörigen wünschen sich etwas ganz anderes.
Am 11. März begeht die Bundesregierung den „Nationalen Gedenktag für Opfer von terroristischer Gewalt“ im Bundestag. Viele der Angehörigen und Betroffenen sind dort aber gar nicht eingeladen. Sie haben sich in der Gruppe „Solidaritäts-Netzwerk von Angehörigen, Betroffenen und Überlebenden rechter, rassistischer und antisemitischer Morde und Gewalt“ organisiert und weisen darauf hin, was sie wirklich bräuchten.
„Rechtsextreme Gewalt, das ist nicht nur Halle, Hanau und Kassel“, sagt Yasemin Kılıç auf dem Podium des Solidaritätsnetzwerks in Berlin. Sie ist die Mutter des in München 2016 ermordeten 15-jährigen Selcuk Kılıç und eine der Sprecherinnen, die sich auf dem Podium am 11. März, dem „Nationalen Gedenktag für Opfer terroristischer Gewalt“, Gehör verschaffen.
Rechtsextremer Terror: Mehr Opfer, als viele kennen
Im Solidaritäts-Netzwerk unterstützen sich Angehörige und Überlebende von Terrorangriffen aus ganz Deutschland gegenseitig. Seit der Wiedervereinigung gab es nach unabhängigen Zählungen 219 Todesopfer rechtsextremer Gewalt, staatlich anerkannt sind 113 Fälle. Die Ermordung von Walter Lübcke nahe Kassel 2019 und die Terroranschläge in Halle 2019 und Hanau 2020 sind prominente Fälle, aber sie sind leider nicht singulär. Die Angehörigen von Opfern weniger eindeutig rechtsextrem motivierter Gewalttaten kämpfen zusätzlich zum Verlust des ermordeten geliebten Menschen damit, dass ihre Situation nicht anerkannt wird. Einige erzählen ihre Geschichte bei einer Pressekonferenz ihres „Solidaritätsnetzwerks“ in Berlin. Zur offiziellen Gedenkstunde heute im Bundestag sind die meisten von ihnen nicht eingeladen.
Eltern, die ihre Kinder verloren haben
Was sich die Mütter, Väter und Geschwister wünschen, die auf dem Podium sitzen, ist durchaus bescheiden. Die Mutter des 2012 in Berlin-Neukölln ermordeten Burat Bektaş bringt dies auf den Punkt. Melek Bektaş sagt: „Wer gedenken will, soll auch lernen.“ Sie meint: Wichtiger als Trauerbeflaggung und ein Gedenken im Bundestag wäre allen hier, wenn ihnen zugehört würde und daraufhin eine empathische und solidarische Reaktion erfolgte. Wenn Maßnahmen gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus umgesetzt würden, damit solche Taten in Zukunft weniger passieren. Der Ist-Zustand sieht noch anders aus.
Verweigerte Anerkennung seit 1984: „Keine isolierten Taten“
Aynur Satır, Überlebende des Brandanschlags in Duisburg 1984, bei dem sieben Mitglieder ihrer Familie zwischen 4 und 40 Jahren starben, kämpft bis heute darum, dass die Tat als rassistisch motiviert anerkannt wird: „Immer wieder muss ich nicht nur die Folgen der Tat verarbeiten. Ich muss auch um Anerkennung kämpfen. Ich muss mich immer wieder als Betroffene sichtbar machen.“ Nach dem Brandanschlag wurde sie nicht als Zeugin gehört, bis heute ist er nicht offiziell als rechtsextrem klassifiziert.
Naomi Henkel-Guembel, Überlebende des rechtsterroristischen Anschlags auf die Synagoge von Halle 2019, gibt zu bedenken: „Das sind keine isolierten Taten. Sie sind eine Folge des immer noch verbreiteten und gerade wieder erstarkenden rechtsextremen Gedankenguts. Diese Missstände muss auch die Bundesregierung benennen.“ Sie wünscht sich: „Die Zeit des Schweigens muss vorbei sein. Der Hass soll in unserer lauten Solidarität untergehen.“
„Traumatische Erfahrung immer wieder durchleben“
Auch nach dem Attentat im Münchener Olympia-Einkaufszentrum 2016 hat es mehr als drei Jahre gedauert, bis die rechtsextreme Motivation des Täters anerkannt wurde. Denn obwohl er explizite Manifeste hinterließ, wurden diese zunächst nicht beachtet, weil der Täter selbst einen Migrationshintergrund hatte. Aber vor allem eine rechtsextreme und rassistische Gesinnung. Selcuk Kılıç, der 15-jährige Sohn von Yasemin Kılıç, war eines der Opfer des Attentats.
Sie sagt: „Als Mutter eines ermordeten Kindes muss ich immer weiter kämpfen. Darum, dass der Fall anerkannt wird. Um Transparenz, Aufklärung, Gerechtigkeit. Und ich muss sehen, dass keine Lehren aus der Tat gezogen werden.“ Immer wieder müsse sie das Trauma, das sie durch die Ermordung ihres Sohnes erlitten hat, beweisen: „Habe ich genug Stress, um eine staatliche Unterstützung zu bekommen? Das muss ich immer wieder unter Beweis stellen, die traumatische Erfahrung immer wieder durchleben.“ Die meisten Eltern wollen die Unterstützung vor allem, um Bildungs- und Erinnerungsarbeit organisieren zu können, damit sie nach dem Tod ihrer Kinder wenigstens einen Sinn darin finden können, andere Betroffene zu unterstützen und gegen Rassismus und Antisemitismus zu arbeiten.
Rassistische Polizeigewalt: Ohne Aufklärungswillen
Dass vor allem struktureller Rassismus und rassistisch motivierte Polizeigewalt kaum aufgeklärt und bearbeitet wird, ist eine besondere Belastung für die Angehörigen. Mamadou Saliou Diallo, der Bruder des 2005 in Polizeigewahrsam in Dessau verbrannten Oury Jalloh, kämpft sein 2007 um Aufklärung und muss feststellen: „Die Behörden weigern sich, den Fall aufzuklären. Der Staat schützt lieber die kriminellen Polizisten, statt Rassismus in der Polizei anzugehen und als Realität zu benennen.“ Er sagt den Satz, der die Erfahrung vieler hier zusammenfasst: „Unsere Fälle sind verschieden, aber wir fühlen alle denselben Schmerz, wir fühlen alle das gleiche Leid. Das muss der deutsche Staat verstehen.“