Jede Woche analysiert Moritz Koch, Leiter des Handelsblatt-Büros in Brüssel, Tendencies und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der EU. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: [email protected]
Wer die europäische Debatte über die Russlandsanktionen in den vergangenen Wochen verfolgt hat, könnte den Eindruck gewinnen, dass ein Stahlrohr auf dem Ostseegrund die ultimative Wirtschaftswaffe gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin sei. Als entscheide sich die Frage nach Krieg und Frieden in Europa am Schicksal der Nord-Stream-2-Pipeline zwischen Russland und Deutschland.
Die ungeschickte Kommunikation der Bundesregierung, speziell des Kanzlers, trägt einen erheblichen Anteil daran, dass die Diskussion so aus dem Ruder lief. Dennoch gilt: Die allgemeine Aufregung über die Pipeline steht in keinem Verhältnis zu ihrer Bedeutung für das Sanktionspakets.
Ja, Nord Stream 2 liegt im strategischen Interesse der russischen Führung, Deutschland hätte sich schon deshalb nie darauf einlassen sollen. Spätestens jetzt, nach der russischen Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine, muss die Bundesregierung Nord Stream 2 stoppen, wenn sie nicht den letzten Funken Vertrauen bei ihren osteuropäischen Partnern verspielen will.
Klar ist aber auch: An Putins Kalkül ändert sich dadurch wenig. Zum jetzigen Zeitpunkt würde die Nichtinbetriebnahme einer sich ohnehin nicht in Betrieb befindlichen Pipeline ungefähr genauso viel Eindruck auf den Kreml machen wie eine gemeinsame Moskaureise von Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel – nämlich null.
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Die europäische Öffentlichkeit führt eine Phantomdiskussion, statt Schritte zu erörtern, die echte Wirkung hätten.
Maßnahmen gegen das System Putin
Welche das wären? Vor allem Sanktionen gegen den russischen Geld- und Politadel. Visasperren für Oligarchen und ihre Familienangehörigen, die in Paris shoppen, in der Schweiz Ski fahren und in Oxford studieren. Die Beschlagnahmung ihrer Jachten und Luxusimmobilien, das Einfrieren ihrer Konten. Die Offenlegung von Tarnfirmen, in denen die russische Elite das Vermögen versteckt, das sie der russischen Bevölkerung gestohlen hat.
Diese Maßnahmen richten sich nicht primär gegen Russland, sondern gegen das System Putin. Das ist ihr Vorteil, und deshalb spielen sie in vertraulichen Sanktionsgesprächen der EU, anders als in der öffentlichen Diskussion, eine wichtige Rolle.
Putin kann es sich nicht leisten, die Unterstützung der Elite zu verlieren, die seine Herrschaft absichert. Seine außenpolitischen Aggressionen müssen Kosten haben, die er nicht auf die russische Bevölkerung abwälzen kann, sondern ihn selbst und seine Herrschaftsclique treffen. Hauptziel muss es sein, Unzufriedenheit an der Spitze des Regimes zu schüren.
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Denn zur Wahrheit gehört auch: Drohungen mit Kapitalsperren gegen russische Großbanken, einem Tech-Embargo gegen die russische Industrie und einem Stopp von Nord Stream 2 haben bislang nur wenig bewirkt. Was die russische Wirtschaft schwächt, schwächt nicht unbedingt das russische Regime. Im Gegenteil: Die Importsubstitution, zu der der Westen Russland zwingt, ermöglicht neue Formen der Selbstbereicherung.
Mit seiner der Anerkennung der abtrünnigen Provinzen im Osten der Ukraine hat Putin den letzten Beweis dafür angetreten, dass er nicht Teil der europäischen Staatengemeinschaft sein, sondern sie bekämpfen will. Der Kreml setzt seine Aggression gegen die Ukraine fort, das russische Militär rückt weiter auf die ukrainische Grenze zu, jederzeit könnte es losschlagen.
Putin kann es sich nicht leisten, die Unterstützung der Elite zu verlieren, die seine Herrschaft absichert.
(Foto: dpa)
Selbst wenn Putin am Ende keinen Feuerbefehl gibt: Mit dem größten Truppenaufmarsch seit 1945 hat er der Welt seine Bereitschaft signalisiert, einen anlasslosen Angriffskrieg zu führen.
So gilt es, ihn von nun an zu behandeln: als dauerhafte Gefahr für den Frieden in Europa. Das erfordert eine Antwort, und zwar unabhängig davon, ob die angedrohte Invasion der Ukraine stattfindet oder nicht. Nur wenn sich die EU wehrt, kann sie auf eine Kurskorrektur im Kreml hoffen. Wenn nicht, werden Kriegsdrohungen weiter zum außenpolitischen Instrumentenkasten der russischen Führung zählen.
So wie Putin mit Cyberangriffen und Desinformationskampagnen versucht, die europäischen Demokratien zu destabilisieren, muss Europa dazu übergehen, Putins Herrschaft zu schwächen. Nicht mit Gewalt, aber mit ökonomischem Druck gegen sein kleptokratisches Regime.
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