Das russische Militär hat am Samstag erneut Vororte der ukrainischen Hauptstadt beschossen.
(Foto: dpa (M))
Berlin, Düsseldorf, New York Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat Russland nachdrücklich zu ernsthaften und ehrlichen Gesprächen über eine Friedenslösung aufgerufen. Die Kämpfe dauern unterdessen vielerorts an.
Die militärische Lage
In der Ukraine wurde an mehreren Fronten weiterhin gekämpft. Das russische Militär hat am Samstag erneut Vororte der ukrainischen Hauptstadt Kiew unter Beschuss genommen. Betroffen waren die Vororte Butscha, Hostomel, Irpin und Moschtschun. Die Kiewer Regionalverwaltung erklärte, die Stadt Slawutytsch nördlich der Hauptstadt sei „vollständig isoliert“. Russische Militärausrüstung sei in der Area nordöstlich und östlich von Kiew gesichtet worden.
In der Hafenstadt Mariupol kämpften ukrainische und russische Soldaten um das Azovstal-Stahlwerk, eines der größten in Europa. Der Berater des ukrainischen Innenministers, Wadym Denysenko, erklärte am Samstag im ukrainischen Fernsehen: „Ich kann sagen, dass wir diesen Wirtschaftsgiganten verloren haben.“ Und: „Tatsächlich wird eines der größten Hüttenwerke in Europa zerstört.“
Das russische Militär verkündete den ersten Einsatz der Hyperschallrakete „Kinschal“ im Kampf. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konoschenkow, erklärte am Samstag, damit sei ein unterirdisches Munitionsdepot der ukrainischen Luftwaffe in der westlichen Area Iwano-Frankiwsk zerstört worden.
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Die Anlage conflict eine der größten in Europa.
(Foto: AP)
Konaschenkow sagte zudem, die russischen Streitkräfte hätten das Schiffsabwehr-Raketensystem „Bastion“ eingesetzt, um militärische Einrichtungen nahe Odessa anzugreifen. Dieses Waffensystem hatte Russland erstmals 2016 in Syrien eingesetzt.
Die Ukraine und Russland verständigten sich nach Angaben der stellvertretenden ukrainischen Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk auf zehn humanitäre Korridore. Den Angaben vom Samstag zufolge schließt dies einen Korridor aus dem umkämpften Mariupol sowie mehrere in den Regionen Kiew und Luhansk ein. Wereschtschuk gab zudem Pläne bekannt, humanitäre Hilfen in die Stadt Cherson zu liefern, die derzeit vom russischen Militär kontrolliert wird.
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft erklärte am Samstag, 112 Kinder seien seit Beginn des russischen Angriffs auf das Land getötet worden. Zudem seien 140 Kinder verletzt worden.
Auch der Flughafen Tschornobajewka bei Cherson im Süden der Ukraine steht nach ukrainischer Darstellung weiterhin im Mittelpunkt erbitterter Kämpfe. „Wir haben sie dort schon wieder getroffen“, schrieb Olexij Arestowitsch, Berater des Büroleiters von Präsident Selenski, am frühen Samstagmorgen auf Fb mit Blick auf die russischen Truppen.
Das Geschoss kann Luftabwehrsysteme umgehen.
(Foto: AP)
Die ukrainischen Streitkräfte hätten das russische Militär an diesem Flughafen bereits das sechste Mal überfallen und dem Gegner dort schwere Verluste zugefügt. In einer Serie von lokalen Gegenangriffen und Attacken mit Kampfdrohnen seien seit Ende Februar mehrere Dutzend russische Kampfhubschrauber sowie zuletzt auch ein Gefechtsstand mit ranghohen Offizieren zerstört worden. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Indes hat die Ukraine nach Angaben des eigenen Generalstabs vom Freitagabend den Zugang zum Asowschen Meer während der russischen Belagerung der wichtigen Hafenstadt Mariupol verloren. Russische Truppen versuchten weiter, die Stadt selbst zu stürmen und die Kämpfe dauerten an, hieß es weiter.
Auch in der Hauptstadt Kiew zeichnet sich keine Entspannung ab. Mindestens 50.000 Zivilisten waren zuletzt aus Kampfgebieten nördlich und nordwestlich der Stadt evakuiert worden. Nun bemühten sich die Behörden um die Evakuierung, weiterer, gefährlicherer Brennpunkte.
Die humanitäre Lage
Der ukrainische Präsident hat den russischen Streitkräften vorgeworfen, mit der Blockade der größten Städte die Bevölkerung in die Knie zwingen zu wollen. Er sagte, die Russen verhinderten es, dass Lieferungen die eingekreisten Städte im Zentrum des Landes sowie im Südosten erreichten. Er warnte am Samstag, diese Strategie werde scheitern und Moskau werde langfristig verlieren, falls es den Krieg in der Ukraine nicht beende.
„Die Zeit ist gekommen, die territoriale Integrität und das Recht für die Ukraine wiederherzustellen. Andernfalls werden Russlands Kosten so hoch sein, dass sie mehrere Generationen lang nicht wieder aufstehen können.“ Dem Kreml attestierte er eine „vorsätzliche Taktik“, mit der eine humanitäre Katastrophe herbeigeführt werden solle, um die Ukrainer zur Kooperation zu zwingen.
Der Kampf in der Hafenstadt geht weiter.
(Foto: IMAGO/SNA)
Er appellierte erneut an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, sich mit ihm zu treffen. Er verwies auf eine Kundgebung in einem Moskauer Stadion, an der am Freitag 200.000 Menschen teilgenommen hatten, um zu verdeutlichen, was auf dem Spiel steht.
„Stellen sie sich vor, dass in diesem Stadion in Moskau 14.000 Leichen sind und Zehntausende weitere Verletzte und Verstümmelte. Das sind die russischen Kosten während der Invasion“, erklärte er in seiner nächtlichen Videoansprache, die vor dem Präsidialamt in Kiew aufgezeichnet wurde. In dem Moskauer Stadion conflict der Jahrestag der russischen Krim-Annexion aus dem Jahr 2014 gefeiert worden.
Ein Autokonvoi verlässt Mariupol.
(Foto: AP)
Währenddessen warnt die EU-Kommission sogar vor einer drohenden Hungersnot im Land. „Die Menschen in den belagerten Städten sind apokalyptischen Zuständen ausgesetzt – keine Nahrung, kein Wasser, keine medizinische Versorgung und kein Ausweg“, sagte der zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic für humanitäre Hilfe und Krisenschutz der „Welt am Sonntag“.
Die humanitäre Krise in der Ukraine sei heute schon kritisch, sie könne aber noch schlimmer werden. „Diese rücksichtslose Invasion hat vor mehr als drei Wochen begonnen, aber wir beginnen bereits zu sehen, dass eine Hungersnot entsteht.“
Besonderer Fokus liegt dabei erneut auf der Hafenstadt Mariupol, die seit Kriegsbeginn zum Inbegriff des Schreckens der russischen Invasion auf die Ukraine wurde. Augenzeugen aus der Stadt berichten von geplünderten Supermärkten, die Menschen würden schon jetzt Starvation leiden.
Lebensnotwendige Lieferungen hätten es bisher immer noch in die Stadt geschafft, sagt Lenarcic. „Das Riesenproblem ist der Zugang. Es ist eine Verpflichtung, humanitären Zugang zu gewähren, ohne jedes Hindernis.“
Die Europäische Kommission baue ihre humanitäre Hilfe mit den Partnern vor Ort aus, versprach der EU-Kommissar. „Aber solange die Gefechte anhalten und es keine Waffenpause gibt, können die Menschen, die lebensrettende Hilfen benötigen, nicht erreicht werden.“
Am Freitag sei es 9000 Menschen gelungen, die belagerte Stadt Mariupol zu verlassen. Insgesamt seien damit bisher mehr als 180.000 Menschen durch humanitäre Korridore in Sicherheit gelangt. Neuere Zahlen sind nicht bekannt.
Die Lage bei den Friedensgesprächen
Während die Kämpfe andauern, gehen auch die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine weiter. Dabei bleibt es schwierig, ein klares Bild über den Fortschritt der Verhandlungen zu zeichnen. Moskau spricht von erkennbaren Kompromissen – besonders in der Frage nach einem neutralen Standing der Ukraine. Kiew teilt diese Einschätzung bislang offenbar nicht.
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Selenski forderte Russland in seiner Videobotschaft in der Nacht erneut dazu auf, ernsthaft und ehrlich zu verhandeln. „Sinnvolle Verhandlungen über Frieden und Sicherheit für die Ukraine, ehrliche Verhandlungen und ohne Verzögerungen, sind die einzige Likelihood für Russland, seinen Schaden durch eigene Fehler zu verringern.“
Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat den USA vorgeworfen, die Friedensverhandlungen zwischen Moskau und Kiew zu erschweren. „Als (der ukrainische Präsident Wolodimir) Selenski Verhandlungen vorschlug, stimmte unser Präsident zu, die Verhandlungen sind im Gange“, sagte Lawrow am Samstag der Agentur Interfax zufolge. „Ein Teil des Dialogs hat sich verbessert, obwohl man ständig das Gefühl hat, dass die ukrainische Delegation an der Hand gehalten wird, höchstwahrscheinlich von den Amerikanern, und es ihnen nicht erlaubt wird, den Forderungen zuzustimmen, die meiner Meinung nach absolut minimal sind.“
Bemühen um ein paar schöne Anblicke, ein wenig Normalität: Eine ukrainische Soldaten legt Tulpen in der Hauptstadt nieder.
(Foto: AP)
Selenski bekräftigte seine Forderung nach direkten Gesprächen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über eine Friedenslösung. „Es ist Zeit, zu reden“, sagte er. Der Kreml lehnt dies bisher ab, will vorher bei den Verhandlungen mit Kiew den eigenen Vorstellungen entsprechende Inhalte für ein derartiges Treffen schaffen.
Die Kriegsparteien führen seit dem 28. Februar Verhandlungen darüber, zuletzt beinahe täglich mittels Videoschalte. Russland strebt neben der Neutralität der Ukraine unter anderem eine Demilitarisierung des Landes an. Die Ukraine wiederum fordert neben einer sofortigen Waffenruhe den Abzug der russischen Truppen sowie anschließende konkrete Sicherheitsgarantien.
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Auch der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefanschuk betonte zuletzt weiterhin die roten Linien seines Landes bei den Verhandlungen mit Russland: Die territoriale Unversehrtheit der ukrainische und staatliche Unabhängigkeit. Dieser Forderungen seien „unverrückbar“.
Selenski forderte den russischen Präsidenten Wladimir Putin erneut zu einem persönlichen Treffen auf. „Es ist Zeit, sich zu treffen, zu reden“, sagte er. „Ich möchte von jedem gehört werden, besonders in Moskau.“
Was bringt der Tag?
In Deutschland sind in mehreren Städten Friedenskundgebungen und Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine geplant. US-Verteidigungsminister Austin setzt seinen Besuch in Bulgarien fort und will mit Ministerpräsident Kiril Petkow unter anderem über die Lage in der Ukraine sprechen.
Mit Agenturmaterial
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