Russlands Krieg gegen die Ukraine tobt, Israel wehrt sich gegen Hamas-Terroristen, und in den USA tritt Donald Trump erneut zur Wahl an. Sicherheits-Experte Wolfgang Ischinger blickt auf das Jahr 2024.
Blick zurück nach vorn: Ein politisch turbulentes Jahr ist zu Ende. Doch die vielen Krisenherde auf der Welt brodeln auch im neuen Jahr weiter.
Der Strategie-Experte Wolfgang Ischinger erklärt im Interview mit t-online, ob er mit einer neuen Präsidentschaft von Donald Trump in den USA rechnet, inwiefern das Wladimir Putins Handeln im Ukraine-Krieg beeinflusst und warum ausgerechnet China zu einer stabilisierenden Macht werden könnte.
t-online: Herr Ischinger, wie schätzen Sie das Jahr 2024 ein – kommt es noch schlimmer als 2023?
Wolfgang Ischinger: Viel schlimmer kann’s kaum werden, innenpolitisch wie außenpolitisch. Ich halte es freilich mit Friedrich Hölderlin, der wie ich in Nürtingen aufwuchs: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Sie haben in unserem letzten Interview gesagt, Donald Trump werde eher im Gefängnis landen als im Weißen Haus. Sind Sie noch immer so zuversichtlich?
Das war zwar mehr Hoffnung als feste Erwartung. Ich bleibe aber zuversichtlich, dass Donald Trump nicht ein zweites Mal ins Weiße Haus einziehen wird.
Joe Biden kandidiert ja eigentlich nur deshalb erneut, weil er Trump verhindern will. Behalten Sie mit Ihrer Trump-Prognose recht, gibt es keinen Grund für die Demokraten, an ihm festzuhalten. Sehen Sie eine jüngere Alternative zu Biden?
Ehrlich gesagt, nein. Aber ich kenne Leute, die von Michelle Obama träumen. Andere sehen im kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom eine jüngere, attraktive Alternative. Aber ob die Trump schlagen könnten?
Biden wäre bequem für die Europäer, weil er ein lebenslanger Atlantiker ist und an der Nato festhalten wird. Ist er nicht auch ein bequemes Alibi dafür, dass Europa sich wie eh und je an Amerika anlehnt, anstatt auf eigene Füße zu kommen – zum Beispiel militärisch?
Ja, Europa muss das Image des sicherheitspolitischen Trittbrettfahrers loswerden. Das ist angesichts des desolaten Zustands unserer militärischen Fähigkeiten allerdings eine Aufgabe für das ganze Jahrzehnt. Die EU muss sich bis dahin zu einem Europa der Verteidigung weiterentwickeln, zu einem Europa, das seine Bürger und seine Grenzen selbst glaubwürdig schützen kann.
Ein Beispiel: Seit Jahren bietet Emmanuel Macron an, mit Partnern wie Deutschland in ein Gespräch über nuklearstrategische Fragen einzutreten. Unsere Reaktion bisher: Schweigen. Eigentlich wäre der Dialog überfällig, wenn wir Europäer im Fall Trump nicht ohne Plan B dastehen wollen. Aktuell sind wir ohne die USA kaum oder gar nicht verteidigungsfähig und können uns deshalb glücklich schätzen, den überzeugten Transatlantiker Biden im Weißen Haus zu haben. Gut, dass Amerika uns Europäer angesichts des russischen Angriffskriegs weiterhin schützt!
Zur Person
Wolfgang Ischinger gehört zu den herausragenden deutschen Experten für internationale Politik. Bis 2022 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz, zuvor war Ischinger als Diplomat und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 als Botschafter in den USA tätig.
Die Ukraine wäre überglücklich, wenn Biden Präsident bliebe, weil die USA dann weiterhin Waffen und Munition liefern und moralische Unterstützung bieten. Oder blutet die Widerstandskraft Ihrer Einschätzung nach langsam aus?
Die Ukraine muss damit rechnen, dass Wladimir Putin sich jedenfalls so lange nicht auf Kompromisse einlassen wird, wie er auf Trump im Weißen Haus hoffen kann – also mindestens noch mal 11 Monate bis Ende 2024. Das gilt auch für uns: Dieser Krieg wird noch länger dauern! Darauf müssen wir uns einstellen, auch was die notwendige Intensivierung von Waffen- und Munitionslieferungen betrifft. Die EU hatte eine Million Artilleriegranaten in Aussicht gestellt – geliefert wurde jedoch bislang noch nicht einmal die Hälfte. Hat Europa, hat Berlin im wahrsten Sinn des Wortes etwa den Schuss nicht gehört? Es herrscht Krieg in Europa, ganz in unserer Nachbarschaft! Im neuen Jahr ist dieser Krieg, wenn man seinen Beginn auf die Annexion der Krim im Jahr 2014 festlegt, bereits zehn Jahre alt – er dauert damit jetzt schon genauso lang wie die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts!