Berlin Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat Russland nachdrücklich zu ernsthaften und ehrlichen Gesprächen über eine Friedenslösung aufgerufen. Die Ukraine berichtete über mehrere Tote und Verletzte bei erneuten russischen Angriffen.
Die militärische Lage
In der Ukraine wurde an mehreren Fronten weiterhin gekämpft. Im Ort Butscha nordwestlich der Hauptstadt Kiew seien durch Beschuss am Freitag sieben Zivilisten ums Leben gekommen, teilte die Polizei der Area Kiew mit.
In der ostukrainischen Area Donezk sprach die regionale Polizeibehörde von Dutzenden Toten und Verletzten ebenfalls bei Angriffen am Freitag. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Für die bedrängte Zivilbevölkerung in den Kriegsgebieten seien zehn Fluchtkorridore eingerichtet worden. Einer führe aus der seit Tagen besonders schwer umkämpften Stadt Mariupol im Süden in Richtung der zentralukrainischen Stadt Saporischschja.
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Aus dem umkämpften Gebiet Luhansk im Osten des Landes führten vier Korridore in die Stadt Bachmut. Weitere Fluchtrouten wurden demnach aus Dörfern und Städten um die Hauptstadt Kiew eingerichtet.
In Saporischschja wurde eine anderthalbtägige Ausgangssperre verhängt. Bis Montagmorgen um 6.00 Uhr (5.00 Uhr MEZ) stelle auch der Bahnhof der Stadt seinen Betrieb ein, teilte die ukrainische Eisenbahngesellschaft mit.
Die ukrainischen Verteidiger der umkämpften Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer können nicht auf Verstärkung hoffen. Olexij Arestowytsch, ein Berater des ukrainischen Präsidenten, erklärte am Freitagabend, die nächstgelegenen Streitkräfte, die jenen in Mariupol helfen könnten, seien bereits in Kämpfe gegen die „überwältigende Macht des Feindes“ verwickelt, mindestens 100 Kilometer weit entfernt – oder beides. „Es gibt gegenwärtig keine militärische Lösung für Mariupol“, sagte er. „Das ist nicht nur meine Meinung, das ist die Meinung des Militärs.“
In der Hafenstadt sind nach ukrainischen Angaben 400.000 Menschen sind eingeschlossen. Selenski warf Russland erneut vor, Hilfslieferungen in belagerte Städte zu verhindern.
Das russische Militär verkündete den ersten Einsatz der Hyperschallrakete „Kinschal“ im Kampf. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konoschenkow, erklärte am Samstag, damit sei ein unterirdisches Munitionsdepot der ukrainischen Luftwaffe in der westlichen Area Iwano-Frankiwsk zerstört worden.
Konaschenkow sagte zudem, die russischen Streitkräfte hätten das Schiffsabwehr-Raketensystem „Bastion“ eingesetzt, um militärische Einrichtungen nahe Odessa anzugreifen. Dieses Waffensystem hatte Russland erstmals 2016 in Syrien eingesetzt.
Die ukrainische Marine habe die Häfen Odessa, Otschakiw, Tschornomorsk und Piwdenny vermint, teilte der russische Inlandsgeheimdienst FSB am Samstag in Moskau mit. Einige der mehr als 420 verankerten Seeminen hätten sich im Sturm aber losgerissen. Das bedrohe Schiffe auf dem Schwarzen Meer. Schlimmstenfalls könnten Minen durch die türkischen Meerengen ins Mittelmeer treiben, hieß es in der FSB-Mitteilung.
Das auf Schifffahrt spezialisierte ukrainische Portal BlackSeaNews zitierte am Samstag ebenfalls die russische Warnung vor treibenden Seeminen. Es berichtete aber unter Berufung auf eigene Quellen, die russische Schwarzmeerflotte habe die Seeminen auf der Route zwischen Odessa und dem Bosporus gelegt. Unabhängige Bestätigungen dafür gab es nicht.
Zur Stärkung der Nato-Ostflanke wollen die USA ein Truppenkontingent nach Bulgarien entsenden. Das sagte der bulgarische Ministerpräsident Kiril Petkow nach Gesprächen mit US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am Samstag in Sofia. Dieses Kontingent soll unter dem Kommando des Nato-Oberbefehlshabers in Europa stehen.
Die humanitäre Lage
Der ukrainische Präsident hat den russischen Streitkräften vorgeworfen, mit der Blockade der größten Städte die Bevölkerung in die Knie zwingen zu wollen. Er sagte, die Russen verhinderten es, dass Lieferungen die eingekreisten Städte im Zentrum des Landes sowie im Südosten erreichten. Er warnte am Samstag, diese Strategie werde scheitern und Moskau werde langfristig verlieren, falls es den Krieg in der Ukraine nicht beende.
Währenddessen warnt die EU-Kommission sogar vor einer drohenden Hungersnot im Land. „Die Menschen in den belagerten Städten sind apokalyptischen Zuständen ausgesetzt – keine Nahrung, kein Wasser, keine medizinische Versorgung und kein Ausweg“, sagte der zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic für humanitäre Hilfe und Krisenschutz der „Welt am Sonntag“.
Die humanitäre Krise in der Ukraine sei heute schon kritisch, sie könne aber noch schlimmer werden. „Diese rücksichtslose Invasion hat vor mehr als drei Wochen begonnen, aber wir beginnen bereits zu sehen, dass eine Hungersnot entsteht.“
Besonderer Fokus liegt dabei erneut auf der Hafenstadt Mariupol, die seit Kriegsbeginn zum Inbegriff des Schreckens der russischen Invasion auf die Ukraine wurde. Augenzeugen aus der Stadt berichten von geplünderten Supermärkten, die Menschen würden schon jetzt Starvation leiden.
Lebensnotwendige Lieferungen hätten es bisher immer noch in die Stadt geschafft, sagt Lenarcic. „Das Riesenproblem ist der Zugang. Es ist eine Verpflichtung, humanitären Zugang zu gewähren, ohne jedes Hindernis.“
Die Ukraine hat seit Beginn der russischen Invasion 190.000 Zivilisten aus Frontgebieten über Fluchtkorridore evakuiert, wie die stellvertretende Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk in einem Fernsehinterview sagt.
Die Korridore in den Regionen Kiew und Luhansk waren am Samstag offen, aber ein geplanter Korridor zur belagerten östlichen Hafenstadt Mariupol sei nur teilweise funktionsfähig, da Busse von russischen Truppen nicht durchgelassen würden.
In Deutschland registrierte die Bundespolizei seit Beginn des russischen Angriffs nach Angaben des Bundesinnenministeriums vom Samstag 207.742 Kriegsflüchtlinge. Die Zahl der tatsächlich Angekommenen dürfte aber deutlich höher sein.
Nach UN-Angaben sind seitdem mehr als 3,1 Millionen Menschen aus der Ukraine ins Ausland geflohen. Allein in Polen kamen bisher rund zwei Millionen Menschen an.
Die Lage bei den Friedensgesprächen
Der ukrainische Präsident hat Russland zu ernsthaften Gesprächen über eine Friedenslösung aufgerufen. „Ich will, dass mich alle hören, insbesondere in Moskau. Es ist Zeit für ein Treffen, es ist Zeit zu reden“, sagte Selenski in einer Videobotschaft am Samstag, während die Kämpfe in der Ukraine unvermindert andauerten.
Selenski verlangte, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine müsse wieder hergestellt werden. Anderenfalls werde Russland Verluste erleiden, von denen es sich erst in mehreren Generationen erholen werde. Die Ukraine habe stets ihre Bereitschaft gezeigt, ohne Verzögerungen ehrliche Gespräche über Frieden und Sicherheit zu führen.
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Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über eine Waffenruhe haben bislang nicht zu Ergebnissen geführt. Beide Seiten werfen sich gegenseitig eine Verzögerungstaktik vor.
Laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax erwartet Russlands Außenminister Sergej Lawrow, dass der Einsatz in der Ukraine mit der Unterzeichnung eines umfassenden Abkommens über Sicherheitsfragen, einschließlich eines neutralen Standing der Ukraine, beendet wird.
Die USA haben China vor militärischen Hilfen für Russland gewarnt. Lawrow zufolge wird die Verbindung zwischen Russland und China unter den gegebenen Umständen aber nur stärker. „In Zeiten, in denen der Westen unverhohlen alle Fundamente, auf denen das internationale System basiert, untergräbt, müssen wir – als zwei große Mächte – darüber nachdenken, wie wir in dieser Welt weiter verfahren“, zitierte ihn Interfax.
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Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki forderte härtere Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland. Sein Land schlage eine Handelsblockade vor, die so schnell wie möglich in Kraft treten müsse, sagte er nach Angaben der Agentur PAP. Diese müsse sowohl ein Einfahrverbot russischer Schiffe mit russischen Waren in europäischen Seehäfen als auch ein Verbot des Handels auf dem Landweg umfassen.
Die beiden früheren britischen Premierminister Gordon Brown (Labour) und John Main (Konservative) sprachen sich für ein gesondertes Kriegsverbrechertribunal für die Ukraine aus. Hintergrund sei, dass eine Anklage gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen des Befehls zum Angriffskrieg gegen die Ukraine unwahrscheinlich sei, sagte Brown der BBC.
Die Kriegsparteien führen seit dem 28. Februar Verhandlungen darüber, zuletzt beinahe täglich mittels Videoschalte. Russland strebt neben der Neutralität der Ukraine unter anderem eine Demilitarisierung des Landes an. Die Ukraine wiederum fordert neben einer sofortigen Waffenruhe den Abzug der russischen Truppen sowie anschließende konkrete Sicherheitsgarantien.
Mit Agenturmaterial
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