Brüssel Die Europäische Kommission dämpft die Erwartungen, dass die Rechtsstaatsvergehen der polnischen und ungarischen Regierung bald zu einer Kürzung von EU-Geldern führen. Am vergangenen Mittwoch hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bestätigt, dass eine solche Kürzung von Geldern möglich ist. Nun heißt es aus der Kommission, man rechne nicht mit einem Begin in den nächsten Wochen. Ob die Justizreform in Polen überhaupt zum Gegenstand eines Verfahrens werden kann, erscheint unsicher.
„Wir werden jeden Fall sehr strong und solide vorbereiten, um möglichst viele Risiken auszuschließen“, sagte Justizkommissar Didier Reynders dem Handelsblatt. Zudem habe der EuGH die engen Vorgaben für solche Verfahren betont. „Jeder Fall muss eine echte Verbindung zum Haushalt der EU aufzeigen“, sagte er. „Generelle Bedenken wegen Mängeln an der Rechtsstaatlichkeit reichen nicht aus.“
Die deutsche Bundesregierung reagierte ganz anders: „Jetzt gilt in Europa ein einfaches wie wirksames Prinzip: Wer europäisches Recht bricht, der kann nicht mit europäischem Geld rechnen.“, feierte die deutsche Europa-Staatssekretärin Anna Lührmann (Grüne) die neuen Möglichkeiten bei einer Rede im Bundestag.
Es treffen zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen auf den Rechtsstaatsmechanismus aufeinander: Für die einen ist er ein Mittel, um eine Vielzahl von Verstößen schnell und einigermaßen unkompliziert zu ahnden. So sehen es auch viele Abgeordnete des Europaparlaments.
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Die Kommission betont aber gern, wie eng der Anwendungsbereich des Mechanismus ist, und sieht sich nun vom EuGH bestätigt. In der Urteilsbegründung heißt es aber mehrfach, dass eine „real“ Verbindung bestehen müsse zwischen dem Rechtsbruch und dem EU-Haushalt. Die Beamten der Kommission deuten das so, dass sie besondere Vorsicht walten lassen müssen.
Polen ist ein schwieriger Fall
Gegen Polen vorzugehen könnte damit schwierig werden. Die polnische Regierung hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr Möglichkeiten verschafft, Einfluss auf die Justiz zu nehmen. Auch der EuGH hat Polen deswegen schon verurteilt.
Wenn sich das Rechtsstaatsverfahren anwenden ließe, wäre es schneller als ein Prozess vor dem EuGH und könnte höhere Kosten für den betreffenden Staat bringen. Darauf hoffen in der EU viele, weil sie einen dauerhaften Schaden für das politische System in Polen befürchten.
>> Lesen Sie hier: Die Richter haben den Weg für die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus frei gemacht. Was passiert jetzt? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Aber berühren die Justizreformen wirklich die finanziellen Interessen der EU? Für viele Europaparlamentarier ist das ganz klar: Sie fürchten, dass die Verwendung von EU-Geld in Polen keiner ausreichend unabhängigen Kontrolle mehr unterliegt.
Das erhöht die Gefahr, dass es veruntreut wird. Nach dieser Argumentation könnte man Polen praktisch alle Gelder streichen, die das Land aus dem EU-Haushalt erhält.
Der Belgier will sich in den Verfahren gegen Polen und Ungarn keine Fehler erlauben.
(Foto: REUTERS)
Ob die Kommission sich dieser Auffassung anschließt, wird sie sich sehr genau überlegen. „Wenn wir einen Fall eröffnen, wollen wir sichergehen, dass wir ihn auch gewinnen können“, sagte Reynders.
Dabei kommt es auch auf die Sichtweise der nationalen Regierungen an. Reynders will das Außenministertreffen an diesem Dienstag nutzen, um einen Eindruck von der Stimmung unter den Mitgliedstaaten zu bekommen. Um einem Land Gelder zu kürzen, muss am Ende des Verfahrens eine qualifizierte Mehrheit der Staats- und Regierungschefs dem zustimmen.
Im polnischen Parlament werden gerade Vorschläge diskutiert, wie die Justizreform abgeändert oder teilweise zurückgenommen werden könnte. Reynders ist offen dafür, eingeleitete Verfahren bei neuen Entwicklungen auch abzubrechen. „Es ist nicht unser Ziel, Staaten zu bestrafen. Das Ziel ist die vollständige Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit“, sagte er. „Wenn ein Mitgliedstaat reagiert, indem er sich wieder an die europäischen Normen hält, stoppen wir den Prozess.“
Ungarn muss Verfahren fürchten
In Bezug auf Ungarn liegen die Dinge klarer. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) stellt in Ungarn deutlich mehr finanzielle Unregelmäßigkeiten fest als in jedem anderen Land, der Wert liegt quick achtmal so hoch wie der Durchschnitt.
Dennoch unternimmt die Regierung kaum etwas dagegen. Im November schrieb die EU-Kommission an Ungarn: „Risiken im Zusammenhang mit Vetternwirtschaft, Günstlingswirtschaft und Nepotismus in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung oder Risiken, die sich aus der Schnittstelle zwischen Unternehmen und politischen Akteuren ergeben, bleiben unbehandelt.“
Der vom EuGH geforderte Bezug zum Haushalt ist hier recht eindeutig. Trotzdem heißt es in der Kommission, dass die EuGH-Entscheidung den Fall komplizierter gemacht hätte. Mit einer schnellen Eröffnung des Verfahrens sei darum nicht unbedingt zu rechnen.
Im Blick ist dabei der 3. April. An diesem Datum wird in Ungarn ein neues Parlament gewählt. Ministerpräsident Viktor Orban muss fürchten, seine Mehrheit zu verlieren. Sollte die Kommission kurz vorher ein Verfahren eröffnen, könnte das als Einmischung in die Wahl verstanden werden.
Rücksicht nehmen will Reynders darauf aber nicht. „Es gibt keine Verbindung zwischen der politischen Scenario in einem Mitgliedstaat und der Tatsache, dass wir Risiken analysieren“, sagte er.
Mehr dazu: Warum die Mittel der EU nicht reichen, um Orban und Kaczynski zu bremsen – ein Kommentar