Nach drei Jahren melden sich Twenty One Pilots mit „Clancy“ zurück. Gelingt der Abschluss einer Geschichte, an der die Amerikaner seit neun Jahren schrauben?
Viele Bands haben DAS Album, DIE Single, die sie in den Ohren der Öffentlichkeit definiert. Für das Pop-Rock-Duo Twenty One Pilots war das zweifellos „Blurryface“ – zwar bereits das vierte Album der Amerikaner, aber das erste, mit dem sie weltweiten Erfolg hatten. Besonders die Singles „Ride“ und „Stressed Out“ katapultierten Frontmann Tyler Joseph und Schlagzeuger Josh Dunn auf die großen Bühnen – sie galten als die neuen Wunderkinder des Pop. Das war 2015. Heute, neun Jahre später, stellen sich Twenty One Pilots mit der Veröffentlichung ihres neuen Albums „Clancy“ als eine Band vor, die den Anspruch an die eigene Musik gänzlich anders definiert: über maximale Kreativität vor allem anderen.
Die Entwicklung der Gruppe seit 2015 ist bemerkenswert: Der „Blurryface“-Nachfolger „Trench“ erschien 2018, die erste Single „Jumpsuit“ klang wie nichts, das man vom Vorgänger kannte. Es ist ein musikalisch tiefschwarzes Stück Rockmusik, textlich paranoid. Im Finale schreit, bettelt Joseph darum, endlich verschwinden zu dürfen. Das Album hat auch sonst musikalisch wenig mit dem einigermaßen sterilen Vorgänger zu tun, enthält keine klassischen Singles. „Trench“, zu Deutsch „Schützengraben“, war die Geschichte eines Mannes auf der Flucht vor einer Diktatur. Ein Konzept-Album in einer noch größeren Geschichte: eine Erzählung, die sich auch auf „Clancy“ fortsetzt.
„Clancy“ folgt auf das schwächste Album der Band
Gleich vorneweg: Vieles an „Clancy“ ergibt nur für diejenigen Sinn, die “Trench“ kennen. Die Bezüge sind wenig subtil: Clancy war der Name eine der zentralen Figuren, die Tyler Joseph in „Trench“ beschrieb. Er inspirierte den Protagonisten überhaupt zu seiner Flucht. Clancy war und ist eine Legende der Rebellion gegen eine fiktive Diktatur. Doch ob Clancy am Leben ist oder jemals existiert hat, bleibt unklar. Auch auf dem Album „Scaled and Icyvon 2018 wird die Frage angeschnitten, aber nicht beantwortet.
„Welcome back to Trench“
Die Geschichte, die auf „Trench“ begann und auf „Scaled and Icy“ angedickt wurde, wird in der ersten „Clancy“-Single „Overcompensate“ weitererzählt, buchstäblich. Im ersten Satz grüßt ein elektronisch verzerrter Tyler Joseph: „Welcome back to Trench!“, Willkommen zurück im Schützengraben. Unter Synthesizern und hektischen Drums wabert kurz darauf ein direktes Zitat aus dem „Trench“-Song „Bandito“, in dem Joseph 2018 die Flucht aus „Dema“ beschrieb.
Triumphal, aber schwer zugänglich
Im zweiten Vers löst Joseph ein Rätsel des Vorgängers „Scaled and Icy“ auf: Clancy lebt, und noch mehr: „If you can’t see, I am Clancy, done running“ – Falls ihr es immer noch nicht seht, ich selbst bin Clancy.
„Overcompensate“ ist, ähnlich wie „Jumpsuit“ auf „Trench“, erneut nichts fürs Radio, und doch ein triumphaler Start in „Clancy“. Die, die die beiden Vorgänger nicht seziert haben, dürften an vielen Stellen vom Text allerdings wenig bis nichts verstehen.
Ist die Diktatur echt?
Das ändert sich über weite Strecken des Albums, beispielsweise auf „Next Semester“, einer wütend-ängstlichen Rock-Nummer über Josephs augenscheinlich furchtbare Studienzeit, oder „The Craving“, eine zurückgenommene Folk-Pop-Ballade. „Backslide“ dagegen steht auf einem Hip-Hop-Gerüst. Musikalisch ist „Clancy“ außergewöhnlich vielseitig, Joseph wechselt teils aus dem Stand von Rap zu Schreien zu Gesang. Dunns Schlagzeugspiel ist meistens solide, oft auffällig kreativ.
Hinzu kommt Josephs Talent für Metaphern. „Routine in the Night“ funktioniert textlich sowohl als Beschreibung der Erinnerungen an das Leben in der fiktiven Diktatur, ist allerdings auch eine Erzählung über Schlaflosigkeit, „Spaziergänge durch die Hallen in meinem Kopf“. Ähnlich gilt für das raue, treibende „Navigating“, das einerseits von einer Reise erzählt, andererseits den Trauerprozess nach dem Tod der Großmutter beschreibt. Der ganze Kampf gegen die Diktatur, von dem Tyler Joseph singt, funktioniert als große, drei Alben überspannende Uneindeutigkeit – ist die Diktatur echt oder nur das, was im Kopf des Protagonisten passiert?