Berlin Jaroslaw Demtschenkow ist voller Sorge: Die russische Armee habe mit dem größten Atomkraftwerk Europas in Saporischja und dem 1986 havarierten Atommeiler Tschernobyl bereits zwei Nuklearanlagen besetzt und rücke mit neuen Militärattacken immer weiter gegen das AKW bei Mykolajiw im Süden des Landes vor, erklärte der ukrainische Vizeenergieminister im Gespräch mit dem Handelsblatt.
In den besetzten Meilern wurden die Überwachungsanlagen, die in Echtzeit Daten und Bilder an die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) übermitteln sollen, abgeschaltet. Und nun befürchtet Demtschenkow das Schlimmste: „Russland will eine schmutzige Atombombe bauen.“
„Schmutzige Bombe“ ist der Identify für einen Sprengsatz, dem nukleares Spaltmaterial zugesetzt wird. „Um der Ukraine das in die Schuhe zu schieben, wenn die gezündet wird, sammeln sie Nuklearmaterial aus unseren AKWs“, ist Demtschenkow überzeugt und nannte den russischen Präsidenten, der sein Land überfallen hat, einen „Kriegsverbrecher und Atomterroristen“. Bei Nuklearmaterial kann die Herkunft bestimmt werden, weshalb Russland – sollte es tatsächlich eine „schmutzige Bombe“ einsetzen wollen – kein eigenes Atommaterial aus russischen AKWs nutzen dürfte.
Kein sofortiger Russland-Boykott
Demtschenkow conflict nach Berlin gekommen, um mit Wirtschaftsminister Robert Habeck vor dessen Abreise in die Golfstaaten gemeinsame Energiefragen zu beraten. So schlägt Kiew den Deutschen den Bau von einem der geplanten Flüssigerdgasterminals an der Ostsee vor – um schrittweise das Gasoline, das über die russische Nord-Stream-1-Pipeline beim vorpommerschen Lubmin ankommt, zu ersetzen.
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Während worldwide ein sofortiger Importstopp für russisches Öl und Gasoline gefordert wird, ist die Ukraine realistischer: Alles sofort auf einmal abzudrehen gehe nicht. „Es sollte jetzt schon so viel wie möglich durch Einfuhren von Ölprodukten, Kohle und Flüssigerdgas aus anderen Teilen der Welt ersetzt werden“, sagt Demtschenkow.
Innerhalb von neun Monaten sollten die russischen Ölpipelines abgedreht werden und die Einnahmen, die Russland aus seinen Energieexporten erzielt, „müssen auf ein Sperrkonto der Uno kommen, wie bei den Iran-Sanktionen. Russland kann dann nur Geld bekommen, wenn Uno-Forderungen wie der militärische Rückzug erfüllt werden“.
Ein Energieboykott gegen Russland sei aber „dringend erforderlich, denn der russische Staat erzielt mit diesen Exporten den Großteil seiner Einnahmen und Putin persönlich durch seine Beteiligungen an Energiekonzernen auch“, unterstreicht Demtschenkow. Putin sei davon ausgegangen, dass Europa so abhängig sei, dass es nichts gegen den Kreml unternehme.
Wichtig ist dem Vizeminister auch, dass an der deutschen Ostseeküste ein LNG-Terminal gebaut wird – am Anlandepunkt von Nord Stream 1. Denn von dort laufen die Pipelines Eugal und Opal gen Süden. Dort – um die Area von Baumgarten, wo in Österreich mit der ukrainischen Transitpipeline bisher die Hälfte der europäischen Gasimporte aus Russland ankommt – steht die Versorgung Süddeutschlands, Österreichs, des Norden Italiens und Frankreichs sowie osteuropäischer EU-Staaten auf dem Spiel. Sollte Russland seine Gasexporte stoppen, müsse diese Area weiter versorgt werden und mittelfristig Nord-Stream-Erdgas durch anderes ersetzen.
Russland zerstört gezielt Energie-Infrakstruktur
Derweil werden laut dem Vizeminister immer weitere Städte in der Ukraine angegriffen und vor allem wird auch Energieinfrastruktur gezielt zerstört: Nur noch 20 der 80 konventionellen Kraftwerke könnten Heizwärme und Warmwasser erzeugen.
Ganze Städte seien ohne Strom und Heizung, weil auch gezielt Gasleitungen zerstört würden – „allerdings nicht die Transit-Pipeline von Russland nach Westen, dort kämpfen die Russen nicht“, sagt Demtschenkow, der 2003 für vier Jahre bei der Weltbank in Washington gearbeitet hat. Der russische Gastransit gebe der Ukraine so wenigstens entlang dieser Trasse militärische Sicherheit.
Umgekehrt würde Russland von den besetzten AKWs aus Raketen und Geschosse auf Städte abfeuern, „damit unsere Armee auf diese Stellungen nicht zurückfeuern kann, um nicht ein Atomkraftwerk zu treffen“. Die Uno, so fordert der Minister, solle dringend auch Russland aus internationalen Organisationen ausschließen: In der IAEA seien Russen stark vertreten und würden die Behörde manipulieren. Beim Internationalen Roten Kreuz würde Russland bisher verhindern, dass es gefallene Russen in die Heimat bringt – weil Putin keine Toten bei sich haben wolle.
Der Stromverbrauch in der Ukraine sei aber nicht nur wegen zerstörter Stromleitungen, Pipelines und Kraftwerke drastisch eingebrochen, sondern auch, „weil 80 Prozent der Unternehmen ihre Arbeit einstellen mussten“. Schon jetzt seien zudem elf Mitarbeiter von Netzbetreibern und Kraftwerken beim Versuch, zerstörte Anlagen zu reparieren, erschossen worden, zehn weitere seien schwer verletzt worden.
Demtschenkow setzt jetzt darauf, dass das ukrainische Stromnetz mit dem europäischen verkoppelt wird. Dies sei erstmals am Mittwoch gelungen und werde in einem Monat dauerhaft stattfinden. So könne nicht nur Europas größter Flächenstaat mit Strom versorgt werden, sondern nach dem Krieg auch zu Spitzenverbrauchszeiten ukrainischer Strom den Mangel in der EU beseitigen. Kurzfristig seien ein, mittelfristig zwei Gigawatt Strom lieferbar.
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Zudem sei ihm sehr wichtig, dass der Krieg nicht auch noch die Pläne der Ukraine zur Klimaneutralität zerstöre, erklärte der Vizeminister. Bis 2035 wolle sein Land aus der Kohle aussteigen und das „enorme Potenzial für Photo voltaic und Windkraft nutzen“, sagt Demtschenkow. „Die Ukraine kann dann die EU in reichem Maße mit grünem Strom und grünem Wasserstoff versorgen.“
Da huscht dem in wenigen Wochen sichtbar gealterten Ukrainer erstmals ein leichtes Lächeln über die Lippen. Über allem schwebt bei dem noch jungen Politiker auch die Sorge um seine Eltern, die 72 Jahre alte Mutter und den 70-jährigen Vater, sowie seine Schwester und den fünfjährigen Neffen.
Auf der Flucht nach Berlin
Er conflict mit ihnen 2014 nach der Eroberung der ostukrainischen Metropole Donezk durch die von Russland unterstützten Separatisten nach Kiew geflohen. Ihnen conflict mit auf dem Weg gegeben worden, kein Russisch in Kiew mehr zu sprechen, um nicht von Nationalisten attackiert zu werden. „Solch ein Unsinn, in Kiew sprachen bis Kriegsausbruch die allermeisten überwiegend Russisch“, sagt Demtschenkow.
Anfang voriger Woche fuhren sie dann zweieinhalb Tage aus der Hauptstadt an die polnische Grenze. Seit vorigem Montag sind sie in Berlin in Sicherheit. Er aber werde in sein Land zurückkehren.
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