Sie muss sich jedoch dem Vorwurf stellen, zu spät begonnen zu haben – und die Wirtschaft womöglich noch zusätzlich zu schwächen. Eine Zinspause – die erste seit Sommer 2022 – wird bei der Sitzung des EZB-Rats am Donnerstag daher intensiv diskutiert werden.
Auf der anderen Seite rechtfertigt der anhaltend hohe Preisdruck eine weitere Anhebung um 25 Basispunkte. Dann läge der Leitzins bei 4,5 Prozent, der Einlagezins für überschüssiges Kapital bei 4,0 Prozent.
Neben der aktuellen Zinsentscheidung achten Investoren auch sehr genau darauf, ob Notenbankchefin Christine Lagarde Signale über den weiteren Kurs der EZB in den nächsten Monaten setzt.
Außerdem legt die Notenbank neue Prognosen zur Inflations- und Wachstumsentwicklung vor. Die wichtigsten Fragen:
Zinsanhebung oder Zinspause – die Euro-Währungshüter haben in den vergangenen Wochen immer wieder betont, dass diese Entscheidung einzig vom relevanten Datenmaterial abhängt. Seit der vergangenen Sitzung sind viele wichtige Indikatoren veröffentlicht worden, aber ein klarer Trend hat sich noch nicht herauskristallisiert.
Die Gesamtinflationsrate ist im August mit 5,3 Prozent überraschend konstant geblieben. Die wichtige Kerninflation, die darauf hinweist, wie sich höhere Preise in der Breite festsetzen, ist hingegen leicht gesunken auf ebenso 5,3 Prozent. Der Trend ist zwar rückläufig, allerdings ist das Ziel von zwei Prozent Inflation noch immer weit entfernt.
Auf konjunktureller Seite macht sich der straffe Zinserhöhungszyklus immer stärker bemerkbar. Mehrere nach vorn gerichtete Konjunkturindikatoren blieben hinter den Erwartungen zurück – ein Beleg für die gedämpfte Stimmung. Immerhin schaffte der Euro-Raum – anders als die deutsche Volkswirtschaft – im zweiten Quartal ein leichtes Wachstum von 0,3 Prozent.
Jari Stehn, Europa-Ökonom von Goldman Sachs, sieht für den Euro-Raum im laufenden Jahr 0,6 Prozent Wachstum voraus, 2024 dann 1,2 Prozent und 2025 einen Anstieg auf 1,7 Prozent. Bei der Inflation erwartet er einen Rückgang von 5,6 Prozent im laufenden Jahr auf 3,0 und 2,1 Prozent in den Folgejahren. Dabei geht er von einem weiteren Zinsschritt am Donnerstag aus.
Silke Tober vom gewerkschaftsnahen Institut IMK erwartet dagegen keine weitere Zinserhöhung. Sie glaubt jedoch, dass die Inflation bis 2025 auf 2,2 Prozent sinkt und damit sehr nah ans Ziel der EZB von 2,0 Prozent herankommt.
Welchen Ausblick gibt die EZB?
Vieles spricht dafür, dass die Notenbank den datengetriebenen Ansatz weiterverfolgt. Präsidentin Lagarde dürfte erläutern, dass weiter alle verfügbaren Optionen offenstehen und dass selbst eine Zinspause nicht zwangsläufig das Ende des Erhöhungszyklus bedeutet. Einzig eine Senkung in den nächsten Monaten scheint ausgeschlossen.
Auf Nachfrage erklärte Lagarde, es gebe keinen „zentralen“ Indikator, der über Für und Wider eines Zinsschritts entscheide. Vielmehr würde man die Variablen im Gesamtkontext einordnen.
Die EZB-Chefin dürfte in der Pressekonferenz dennoch gefragt werden, welcher Indikator den Ausschlag gegeben hat. Daraus könnten die Marktteilnehmer Rückschlüsse auf das weitere Vorgehen ziehen. Katherine Neiss, Europa-Chefökonomin von PGIM Fixed Income, weist darauf hin, dass viele Indikatoren zurzeit eher negativ sind: Industrie und Dienstleistungen schwächelten beide, und am Arbeitsmarkt zeigen sich ebenfalls Warnsignale.
Wie fallen die neuen Prognosen aus?
Die Notenbank präsentiert ihre neuen Prognosen, wie sich Wachstum und Inflation in der Euro-Zone entwickeln werden. Die Vorstellung der Projektionen erfolgt erst parallel zum Zinsentscheid. Doch ihr Inhalt dürfte einen großen Einfluss darauf haben, ob sich die Ratsmitglieder für oder gegen eine Zinspause positionieren.
Die Prognosen nehmen für den geldpolitischen Kurs der EZB eine wichtige Rolle ein. Denn zum einen geben sie Aufschluss darüber, wie kontraktiv die bereits erfolgten Zinsschritte auf die Konjunktur wirken. Und zum anderen lassen sie eine Indikation zu, wie viele Maßnahmen noch nötig sind und bis zu welchem Grad die Wirtschaft diese verträgt.
Die Prognosen haben sich in der Vergangenheit allerdings als wenig zuverlässig erwiesen. Die EZB hat die Wachstumsaussichten regelmäßig nach unten und die Erwartungen hinsichtlich der Inflation nach oben korrigieren müssen.
Ein besonderer Fokus liegt erneut auf der Kerninflation. Bei der vergangenen Prognose im Juni hatte die EZB ihre Erwartungen für 2023 auf 5,1 Prozent und für 2024 auf 3,0 Prozent angehoben. Auch die Projektion der Gesamtinflation lag bis 2025 über dem erklärten Zielniveau von zwei Prozent.
In dem Punkt gibt es die Erwartung, dass die Inflationsprognose erneut etwas angehoben wird. Franck Dixmier von AllianzGI nennt den Grund: die zuletzt deutlich gestiegenen Ölpreise. Immerhin dürfte dann aber die Kerninflation nicht betroffen sein, bei der ja die Preise für Lebensmittel und Energie außen vor bleiben.
Ein weiteres Thema könnte die Bilanzsumme der EZB sein, die zurzeit dadurch sinkt, dass nicht mehr alle Wertpapiere im Portfolio durch Neukäufe ersetzt werden. In dem Punkt wird es aber voraussichtlich keine Kursänderung geben.
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