Düsseldorf Kitkat, Nescafé, Maggi, Thomy – über 2000 Marken gehören zum weltgrößten Nahrungsmittelkonzern Nestlé. Die zahlreichen Geschmacks- und Größenvarianten eingerechnet, gab es bisher mehr als 100.000 verschiedene Artikel des Schweizer Unternehmens. Nestlé-Chef Mark Schneider ist nun dabei, das ausgeuferte Sortiment radikal zu bereinigen. Denn in Zeiten der Inflation und Kaufzurückhaltung will sich Nestlé eine solch breit gefächerte Produktpalette nicht mehr leisten.
2022 hat Nestlé bereits ein Fünftel seiner Produktvarianten eingestellt. In diesem Jahr soll die Zahl noch mal um weitere zehn Prozent gekürzt werden, kündigte Schneider kürzlich an. „Das ist ein gewaltiger Einschnitt und ungewöhnlich, aber vernünftig“, urteilt Hermann Sievers von SMK Consult, Experte für Konsumgüter und Handel. Allein zur Finanzkrise 2008 habe es Sortimentsbereinigungen in ähnlichem Umfang gegeben.
Nicht nur Nestlé, viele Konsumgüterhersteller – vom Konzern bis zum Mittelständler – sind seit Monaten dabei, ihre Produktpalette deutlich zu schrumpfen. „Dadurch reduzieren sie die Komplexität und steigern ihre Effizienz“, sagt Sievers. Die Folge: In den Supermarktregalen wird es künftig weniger Vielfalt geben.
Besinnung auf Schnelldreher
Diese Vielfalt rechnete sich für Hersteller oft kaum. Beispiel Nestlé: Ein Drittel der über 100.000 Produktvarianten trug gerade mal ein Prozent zum Konzernumsatz von zuletzt 94 Milliarden Schweizer Franken (rund 96 Milliarden Euro) ein. „Bei zehn bis 15 Varianten mit minimalen Unterschieden versuchen wir, auf ein oder zwei Varianten runterzukommen“, so der Nestlé-Chef.
Schon immer durchleuchten Konsumgüterhersteller regelmäßig ihr Sortiment. Ladenhüter werden dabei von Produktneuheiten abgelöst. Doch diesmal ist es anders: „Markenartikler stehen unter Druck. Sie verlieren Marktanteile, weil Verbraucher zu günstigeren Handelsmarken greifen“, erklärt Sievers. „Hersteller durchforsten deshalb, wo sie Kosten drücken können.“ Die Markenhersteller fokussierten sich auf hochprofitable Umsatzbringer, so Sievers. „Schnelldreher sind eben rentabler.“
Supermärkte und Discounter sind ebenfalls dabei, ihr Sortiment zu straffen. „Sie setzen in Zeiten der Kaufzurückhaltung mehr auf die Renner statt auf die dritte Variante einer Sorte“, so Sievers. Denn der Umsatz mit Lebensmitteln im deutschen Einzelhandel sank im März real zum Vorjahresmonat um 10,5 Prozent – so stark wie nie seit Beginn der Zeitreihe des Statistischen Bundesamts 1994. Viele Verbraucher kaufen in Zeiten der Inflation nur das Nötigste und sind weniger experimentierfreudig.
KI identifiziert Ladenhüter bei Unilever
Auch Unilever (Knorr, Dove, Magnum) hat 2022 sein Produktsortiment um zehn Prozent reduziert. Bis Ende 2025 sollen ein Fünftel weniger Artikel angeboten werden. So werden etwa bei Körperpflegeprodukten 5000 Typen nicht mehr verkauft. Zudem wurden 50 bis 60 lokale Marken eingestellt, die weniger als ein Prozent zum Umsatz der Sparte beitrugen. „Wir geben bewusst unprofitable Umsätze auf“, sagte jüngst der scheidende Unilever-CEO Alan Jope.
Bei der Sortimentsbereinigung hilft auch Künstliche Intelligenz (KI). „Polaris“ heißt das neue datenbasierte Tool, das Unilever eine detaillierte Bewertung seines Portfolios ermöglichen soll. „So bestimmen wir, ob ein Artikel im Regal bleiben oder eingestellt werden soll“, erklärt Unilever. Leistungsschwache Produkte würden konsequent aussortiert. Das reduziere die Kosten. Stattdessen will sich der britische Konsumgüterkonzern auf Kernartikel konzentrieren.
Der Konsumgüterkonzern Unilever (Knorr, Axe, Magnum) listet leistungsschwache Artikel konsequent aus. Dabei hilft Künstliche Intelligenz.
(Foto: picture alliance / Sebastian Gol)
Vor der Inflation gab es eine überbordende Vielfalt in deutschen Supermarktregalen. Davon waren Verbraucher oft überfordert. „Unsere Branche hat es mit Neuheiten übertrieben – hier eine neue Geschmacksrichtung, da eine andere Variante“, räumte Hanneke Faber, Chefin der globalen Nahrungsmittelsparte von Unilever (Knorr, Pfanni, Hellmann’s), kürzlich im Handelsblatt ein.
So bereinigt Unilever nicht nur sein bestehendes Sortiment. Der Konzern bringt auch weniger Produktneuheiten auf den Markt. 2022 waren es bei Lebensmitteln ein Viertel Innovationen weniger als im Vorjahr. Dieser Trend ist quer durch die Branche zu beobachten, wie Daten des Marktforschers Innova Market Insights zeigen: Von Januar bis Dezember 2022 sank der Indexwert für Innovationen bei Lebensmitteln in Deutschland von 100 auf 83 Punkte.
„Viele Konsumgüterproduzenten müssen Kosten senken und sparen deshalb auch bei Produktneuheiten“, bestätigt Werner Motyka, Partner der Beratung Munich Strategy. Schließlich liegt die Floprate von Neuprodukten laut Marktforscher Nielsen bei 75 bis 80 Prozent.
Bahlsen, Vileda und Veganz bauen Komplexität ab
Nicht nur globale Konzerne, auch deutsche Mittelständler durchforsten derzeit ihre Produktpalette intensiver als sonst. Deutschlands zweitgrößter Wursthersteller The Family Butchers will sein Sortiment stark straffen – von 1340 auf 950 Wurst- und Schinkenprodukte. „Die Fleischpreise haben sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Wir konnten aber längst nicht alle Mehrkosten an den Handel weitergeben. Bestimmte Produkte rentieren sich für uns nicht mehr oder sind massivem Wettbewerb ausgesetzt“, begründet Hans-Ewald Reinert, geschäftsführender Gesellschafter der Holding Infamily Foods, die Einstellung von fast 400 Artikeln. Ohnehin gehe der Fleisch- und Wurstkonsum hierzulande deutlich zurück, die Inflation habe diesen Trend verstärkt.
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Ähnlich handhabt es Veganz aus Berlin in Zeiten der Kaufzurückhaltung. Der börsennotierte Vegan-Spezialist hat sein Sortiment „konsequent optimiert zugunsten der Profitabilität“. Das führte zur Einstellung und Auslistung einzelner Produkte – und damit zu bewussten Umsatzeinbußen.
Der traditionsreiche Gebäckhersteller aus Hannover konzentriert sich auf seine Umsatzbringer und steigt aus unprofitablen Aktivitäten aus.
(Foto: Bahlsen)
Bahlsen strafft ebenfalls sein Sortiment. „Vor dem Hintergrund der immens gestiegenen Kosten haben wir uns entschieden – wie andere Konsumgüterhersteller auch –, konsequent aus unprofitablen Aktivitäten auszusteigen“, teilt der Gebäckhersteller mit.
Auch Vileda, bekannt für Helfer im Haushalt vom Wischer bis zum Wäscheständer, bereinigt sein Sortiment seit dem vergangenen Jahr. Bei einigen Produkten gibt es weniger Auswahl an Farben, Modellen, Größen und Verpackungsvarianten. Andere Artikel werden gar nicht mehr produziert. Vileda will damit konsequent Komplexität abbauen. Die Vorteile: Es spart Aufwand und Kosten, wenn weniger Ware auf Lager gehalten werden muss.
Die meisten Verbraucher werden der geringeren Vielfalt im Supermarkt ohnehin kaum Beachtung schenken. Da die Löhne nicht so stark steigen wie die Lebensmittelpreise, dürften viele Konsumenten weiter verstärkt zu unverzichtbaren Basisprodukten und Handelsmarken ohne Schnickschnack greifen.
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