Berlin Mit den beiden Softwarefirmen Celonis und Personio kommen bereits zwei der aktuell wertvollsten deutschen Start-ups aus Bayern. Die Chancen, dass ihnen bald weitere folgen, sind im vergangenen Jahr gestiegen. Denn erstmals wurde in Bayern mehr gegründet als in Berlin. Das geht aus dem Jahresbericht der Analysefirma Startupdetector hervor, der dem Handelsblatt exklusiv vorliegt. Demnach sind im vergangenen Jahr in Bayern 571 Jungfirmen entstanden, während es in der Hauptstadt lediglich 540 waren.
„Es ist uns in Bayern gelungen, über die letzten zehn bis 15 Jahre ein effektives Ökosystem auch in der Fläche aufzubauen“, sagt Carsten Rudolph vom bayrischen Start-up-Netzwerk Baystartup. Zugleich seien die entstandenen Firmen stark auf Geschäftsbeziehungen zwischen Firmenkunden ausgerichtet und hätten weniger auf Trendthemen gesetzt. Das komme ihnen in der Krise nun zugute.
Die Gründungszahlen basieren auf Erhebungen des Handelsregisters. Da zeigt sich, dass angesichts der Zinswende, weltweiten Wirtschaftsschwäche und Zurückhaltung von Investoren deutlich weniger gegründet wurde. Der Boom ist vorbei. Im vergangenen Jahr ging die Gesamtzahl der Gründungen um mehr als ein Fünftel auf 2705 zurück und sank damit unter den Wert von 2020. In Berlin betrug das Minus auf Jahressicht sogar rund 30 Prozent.
Mehr Gründungen verzeichneten nur Bremen und Mecklenburg-Vorpommern. In Bremen entstand beispielsweise im vergangenen Jahr das Software-Start-up Jeckplan, das die Aufgaben von Karnevalsgesellschaften digitalisieren will.
Mehr Gründungen nur in den Bereichen Umwelttechnologie und Blockchain
In den meisten Branchen wurde im vergangenen Jahr weniger gegründet als im Vorjahr. In den Bereichen Lebensmittel und E-Commerce fielen die Rückgänge besonders stark aus, was Experten auf die hohen Gründungszahlen in der Coronapandemie zurückführen, die jetzt nicht mehr in die Zeit passen. Lediglich in den Branchen Umwelttechnologie und Blockchain starteten mehr neue Start-ups als im Vorjahr.
Greentech-Investorin Charlotte Baumhauer vom Wagniskapitalgeber Squareone führt das unter anderem auf neue Möglichkeiten zurück: „Wir sehen beispielsweise viele neue Softwareapplikationen, die es wiederum ermöglichen, Hardware viel kostengünstiger zu bauen, was so vor fünf bis zehn Jahren noch nicht möglich war.“
Ein zweiter Faktor sei die Marktgröße. „Bei den Herausforderungen, die unsere Gesellschaft im Bereich Klimaschutz vor der Brust hat, scheint das Marktpotenzial grenzenlos zu sein“, sagt Baumhauer, die erst kürzlich in das Berliner Greentech Carbon One investiert hat, das grünes Methanol herstellen will.
Mehr Angels und High-Tech Gründerfonds ganz vorn
Im Gegensatz zu den Neugründungen hielt sich die Zahl der Finanzierungsrunden mit 2185 vergleichsweise stabil. Die Zahl der aktiven Investoren kletterte sogar um 776 auf 8040. Besonders deutlich stieg die Zahl der Angel-Investoren – also von Privatleuten, die sich an Start-ups in der Frühphase beteiligen.
Seit einigen Jahren investiert auch der Fußball-Nationalspieler Mario Götze in Jungfirmen wie das Berliner Fintech Ride Capital oder die Plattform für Beschwerdemanagement Sejcur. Er rät dazu, die Investments langfristig zu betrachten: „Mein Credo ist, unabhängig vom Markt und Trend zu investieren – in Teams und Visionen.“
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Um eine Finanzierungsrunde zusammenzubringen, waren zuletzt mehr Investoren nötig. Während 2021 noch im Schnitt 4,6 Investoren genügten, waren im vergangenen Jahr angesichts der geringeren Zahlungsbereitschaft einzelner Geldgeber 5,2 Investoren nötig. „Die Zahlungsbereitschaft der Investoren ist in der Breite gesunken. Hierdurch müssen Unternehmer wieder mehr Anteile für das gleiche Kapital im Vergleich zu den Boom-Jahren 2020 und 2021 abgeben. Infolgedessen benötigt es zunehmend Syndikate aus mehreren Investoren, um den Kapitalbedarf zu decken“, sagt Andre Retterath, Partner beim Frühphaseninvestor Earlybird.
Mit großem Abstand der aktivste Investor war der High-Tech Gründerfonds (HTGF). „Wir sehen uns im Jahr rund 2000 Geschäftspläne an, darüber hinaus screenen wir rund 10.000 weitere Teams über Datenbankrecherchen oder zum Beispiel als Jury-Mitglieder bei Business-Plan-Wettbewerben“, sagt der HTGF-Geschäftsführer Alex von Frankenberg. Geplant sei, 2023 wieder rund 40 Neuinvestments abzuschließen.
„Wagniskapital macht mir Spaß“, sagt Götze dem Handelsblatt.
(Foto: kolbert-press)
Dabei kann der HTGF auf tiefe Taschen zugreifen. Im Februar hat der Frühphaseninvestor einen Fonds mit einem Gesamtvolumen von knapp einer halben Milliarde Euro geschlossen und damit seinen größten Fonds seit der Gründung vor 18 Jahren.
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Investoren sind weniger risikobereit
Trotz der stärkeren Aktivitäten des HTGF war es im vergangenen Jahr besonders für sehr junge Start-ups schwer, an Gelder zu kommen. So erhielten 18 Prozent weniger Jungfirmen Kapital für ihre erste Finanzierungsrunde. Stattdessen wurde häufiger in späteren Phasen investiert – in der Regel, wenn sich das Geschäftsmodell schon am Markt bewährt hat.
Zugleich ist diese Entwicklung auch ein Hinweis darauf, dass Investoren zunächst Geld in die Bestandsfirmen in ihrem Portfolio stecken und diese unterstützen, wenn es nötig ist, um sie am Leben zu halten. Das wiederum hatte zur Folge, dass Gründer in der Anfangszeit länger mit den eigenen Investitionen und Geldreserven auskommen müssen, bevor sie überhaupt auf Wagniskapital hoffen können.
Gründerinnen sind von jeher eine Ausnahme in der männlich dominierten deutschen Start-up-Branche. Nach Jahren, in denen die Quote zumindest ganz langsam etwas anstieg, kam es im vergangenen Jahr sogar zu einer rückläufigen Entwicklung. Nur 15,6 Prozent der finanzierten Start-ups hatten eine Frau in der Geschäftsführung. Im Vorjahr waren es noch 16,4 Prozent.
Zudem wurde 2022 erneut nur rund jedes fünfte Start-up von Frauen gegründet oder mitgegründet. „Bei Pitches sind wir deutlich in der Unterzahl, wenn nicht sogar die einzigen
Gründerinnen – dasselbe gilt für erste Investorengespräche“, sagt Sophie Schürmann, die die Plattform Peers mitgegründet hat, die die Psychotherapie digitalisieren will.
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