Die Knappheit von Gütern macht wirtschaftliches Handeln notwendig. In einer Marktwirtschaft sind Preise die wichtigsten Steuerungsinstrumente, um knappe Güter ihrer bestmöglichen Verwendungen zuzuführen. Denn versatile Preise signalisieren unterschiedliche Grade von Knappheit.
Doch mit dem, was Einkaufsmanager und Konsumenten im zu Ende gehenden Jahr erleben mussten, hatte wohl niemand mehr gerechnet. Denn Materialengpässe und leere Regale waren einst typisch für die Länder des Ostblocks, der nicht zuletzt aus diesem Grund vor über 30 Jahren kollabierte. Umso überraschender conflict es, dass in kurzer Zeit auch in Deutschland zahlreiche Güter, die Industrie und Handwerk für ihre Produktion benötigen, plötzlich knapp wurden: Rohstoffe, Baumaterial, Vorprodukte, Verpackungen und vor allem Halbleiter.
Diese abrupten Knappheiten führten nicht nur zu Preiskapriolen, sondern auch dazu, dass bestellte Waren nicht produziert werden konnten, weil Bauteile schlicht nicht verfügbar waren. Laut einer Ifo-Umfrage klagten im November drei von vier deutschen Industrieunternehmen über Lieferengpässe. Besonders stark betroffen waren neben Bekleidungsherstellern Deutschlands Schlüsselindustrien Auto, Maschinenbau und elektrotechnische Ausrüster, in denen 85 bis 90 Prozent der Hersteller über fehlende Vorprodukte klagten.
Und auch drei von vier Einzelhändlern fehlen im für das Jahresergebnis oft entscheidenden Weihnachtsgeschäft Waren. Besonders betroffen sind Spielzeug- und Fahrradhändler, von denen nahezu alle über Lieferprobleme berichten.
Prime-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Wie konnte es dazu kommen?
Übertriebene Arbeitsteilung
Als geistiger Vater moderner Simply-in-time-Produktion gilt der Japaner Taiichi Ohno, der die Produktion bei Toyota in den 1970er-Jahren revolutionierte. Um Lagerhaltungskosten zu minimieren, wurden Zulieferteile so bestellt, dass sie unmittelbar nach Anlieferung verbaut werden konnten.
Später kopierten die meisten Industrieunternehmen diese Simply-in-time-Idee – Lastwagen und Güterzüge wurden zu rollenden Lagern. Mit der Integration des ehemaligen Ostblocks und kurze Zeit später auch von China sowie anderer asiatischer Schwellenländer in den Welthandel wurden die Lieferketten immer länger und – wie es sich jetzt zeigt – zunehmend anfälliger. Dies erlaubt den Schluss, dass die internationale Arbeitsteilung womöglich ihr Optimum überschritten hat.
Die Ursachen für die heutigen Mängel sind zwar vielfältig, doch letztlich hängen faktisch alle Lieferprobleme direkt oder indirekt mit Corona und/oder mit China zusammen. Nach dem Ausbruch der Pandemie Anfang 2020 verhängte die chinesische Regierung zunächst einen totalen Lockdown über wirtschaftlich wichtige Regionen. Fabriken und Häfen wurden geschlossen.
Die Folgen bekam die Welt einige Wochen später zu spüren, als der Nachschub von der „Werkbank der Welt“ zunächst in den großen europäischen Häfen und dann in den Fabriken ausblieb.
Als das Coronavirus Europa erreichte, schlossen auch hier die Werke. Bestellungen für Vorprodukte wurden storniert, da kaum jemand erwartete, dass dem ersten Lockdown eine so rasante Erholung folgen würde. Die kräftig wieder anziehende Nachfrage konnte daher vielfach nicht bedient werden, auch weil plötzlich Container fehlten und sich lange Warteschlangen an wichtige Häfen bildeten.
Verstärkt wurden diese Probleme durch rigorose Anti-Corona-Maßnahmen in China. Sobald auch nur ein einziger Coronafall etwa in einem Hafen gemeldet wurde, wurde dieser für viele Tage geschlossen.
Deutschland hängt extrem von Lieferketten ab
Nun ist keine andere große Industrienation so intensiv in die internationale Arbeitsteilung eingebunden und auf funktionierende globale Lieferketten angewiesen wie Deutschland. Denn nur dank konsequentem Outsourcing und permanenten Effizienzsteigerungen gelang es der deutschen Industrie, einen sehr hohen Anteil der Wertschöpfung und eine Vielzahl von Arbeitsplätzen im Hochlohnland Deutschland zu halten.
Deshalb liegt es auf der Hand, dass Deutschland mit seinem exportorientierten Geschäftsmodell von den aktuellen Verwerfungen besonders stark betroffen ist, sodass gleich mehrere Konjunkturforschungsinstitute in dieser Woche ihre Erwartungen für Deutschland kräftig nach unten korrigieren mussten.
Nun dürften allenfalls Anhänger von Verschwörungstheorien glauben, Corona und die ökonomischen Verwerfungen seien das Resultat eines großen Plans des Zentralkomitees der chinesischen KP. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass Chinas Führung sehr genau beobachtet, welche globalen Turbulenzen und hohe gesamtwirtschaftlichen Schäden ihr Land allein dadurch auslösen kann, dass Häfen des Landes geschlossen, Container gehortet oder die Herstellung etwa von Seltenen Erden oder Vorprodukten beschränkt werden.
Die aktuelle Krise zeigt, dass Chinas Regierung mit der Handelspolitik eine sehr scharfe Waffe besitzt, von der die politische Führung bis vor Kurzem wohl nicht geahnt hat, welch globales ökonomisches Droh- und Druckpotenzial diese besitzt.
Es wäre naiv zu glauben, dass Chinas Führung diese ökonomische Waffe nur deshalb nicht gezielt auch gegen Europa einsetzen dürfte, weil sie damit der eigenen Volkswirtschaft Schäden zufügen würde.
China hat eine mächtige Waffe an der Hand
Streng an wirtschaftlichen Kriterien ausgerichtetes Verhalten darf man von Chinas Führung nicht erwarten, insbesondere nicht, wenn es – wie bei Taiwan – um nationale und geopolitische Ziele geht. Abschreckung, die die Welt in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vor einem Atomkrieg bewahrte, führt aber nur dann zu einem relativ stabilen Gleichgewicht, wenn sich beide Seiten rational verhalten und eigene Schäden ins Entscheidungskalkül einbeziehen.
Das Beispiel Australien zeigt jedoch, dass Chinas Führung bereit ist, Engpässe in der eigenen Energieversorgung und damit wirtschaftliche Verluste hinzunehmen, um Australien zu schaden. So werden Kohlelieferungen aus Australien in chinesischen Häfen oft erst mit wochenlanger Verzögerung abgefertigt – obwohl diese Kohle in Chinas Provinzen dringend benötigt wird.
Ein gutes Dutzend australischer Industrien ist von Importzöllen, Boykotts oder Negativkampagnen Chinas betroffen, weil die Regierung Australiens sich nach chinesischer Lesart in innere Angelegenheiten der chinesischen Nation einmischt. Zum Beleg werden internationale von der Regierung zumindest geduldete Kampagnen zugunsten Taiwans und Hongkongs gegen die Unterdrückung der Uiguren oder dem China zugeschriebenen Ursprung des Coronavirus angeführt.
Anhand dieses Vorgehens lässt sich abschätzen, mit welchen Problemen Deutschland rechnen dürfte, wenn die Bundesregierung den Worten im Koalitionsvertrag auch Taten folgen lassen würde. Dort versprachen sich SPD, Grüne und FDP, gegenüber China härter aufzutreten.
Die Antwort Pekings ließ nicht lange auf sich warten. Taiwan, Hongkong und Xinjiang seien interne chinesische Angelegenheiten, stellte ein Regierungssprecher in Richtung Berlin fest.
Riskante Abhängigkeit oder teure Autonomie
Die deutsche Wirtschaft steht damit vor dem Dilemma, entweder mit jederzeit möglichen massiven Verwerfungen im Chinahandel leben zu müssen oder aber die Lieferketten neu zu konzipieren, Lagerkapazitäten aufzubauen oder gar wichtige Vorprodukte wieder im Inland herzustellen – um den Preis deutlich höherer Kosten.
Das betriebswirtschaftliche Kalkül lautet daher, lohnen höhere Kosten, mit denen die Abhängigkeit von China merklich verringert werden kann oder nimmt man das Risiko von temporären Produktionsausfällen in Kauf?
Die neue Bundesregierung muss daher die Frage beantworten, welche ökonomischen Kosten sie zu tragen bereit ist, wenn sie den Ton gegenüber China verschärft. Schließlich wäre eine weitere Schwächung des Wachstumspotenzials so ziemlich das Letzte, was die zwischen Alterung, Dekarbonisierung und Coronafolgen eingeklemmte deutsche Volkswirtschaft gebrauchen kann. Kommt – mit den Worten Bertolt Brechts – additionally erst das Fressen oder erst die Ethical?
Fest steht, 2022 wird politökonomisch kein leichtes Jahr.
Mehr: McKinsey – Unternehmen haben zu wenig für stabilere Lieferketten getan