München Von wegen Aufholjagd: Europa droht in der Chipproduktion weiter zurückzufallen. Das zeigen die neuesten Zahlen, die der Lieferkettenspezialist Everstream für das Handelsblatt ermittelt hat. Demnach investieren die Hersteller in Nordamerika fünfmal so viel in neue Kapazitäten wie in Europa. In den ostasiatischen Chipnationen Japan, Südkorea und Taiwan fließt etwa viermal so viel Geld in moderne Fabriken.
„Stand jetzt kann Europa seinen Marktanteil allenfalls halten“, warnt Everstream-Experte Mirko Woitzik. Dabei hat die EU das Ziel ausgegeben, den Anteil an der weltweiten Chipproduktion bis Ende des Jahrzehnts auf 20 Prozent zu verdoppeln. Dafür reichen die bislang in Europa angekündigten und getätigten Investitionen aber bei Weitem nicht aus. „Es ist relativ unrealistisch, das bis 2030 zu erreichen“, sagt Woitzik.
Das sieht offenbar selbst die Bundesregierung so. „Das Ziel einer Verdoppelung des europäischen Anteils an der Weltproduktion ist ambitioniert“, heißt es in einer Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, die dem Handelsblatt vorliegt. Darin warnt das Ministerium auch vor Lieferengpässen bei den Chips: „Insgesamt wird innerhalb des nächsten Jahrzehnts mit einer Unterversorgung gerechnet.“
Lieferengpässe bleiben auf lange Sicht bestehen
Für die europäischen Kunden der Chipindustrie sind das schlechte Nachrichten. Denn die Betriebe bleiben damit wohl dauerhaft von Lieferanten aus Übersee abhängig. Und dort klemmt es noch immer, obwohl die Pandemie lange vorüber ist. „Die Lieferengpässe auf breiter Front sind vorbei. Einzelne Chips aber sind noch immer knapp – und das wird auch auf lange Sicht so bleiben“, sagt Jan-Hinnerk Mohr von der Beratungsgesellschaft BCG.
Für die Kunden hierzulande ist es enorm wichtig, verlässlich mit Chips beliefert zu werden. „90 Prozent der Industrieunternehmen sind auf Halbleiter angewiesen, für 80 Prozent sind sie sogar unverzichtbar“, sagt Achim Berg, Präsident des Digitalverbands Bitkom. Neue Fabriken in Europa seien umso bedeutender, „weil der Bedarf an Halbleitern auch in Schlüsselbereichen wie dem autonomen Fahren, erneuerbaren Energien oder Künstlicher Intelligenz künftig zunehmen wird“.
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Gunther Kegel, Chef des Sensorherstellers Pepperl+Fuchs und Präsident der Industrievereinigung ZVEI, mahnte im Gespräch mit dem Handelsblatt, „einseitige Abhängigkeiten“ zu reduzieren.
Neue US-Fabriken helfen Europa wenig
Die europäische Industrie sorgt sich Everstream-Experte Woitzik zufolge vor allem um den Nachschub aus zwei Ländern: „Viele Chipkäufer haben China und Taiwan als ihr Hauptrisiko identifiziert.“ Die Einkäufer fürchten, dass die Spannungen zwischen der Volksrepublik und der in ihren Augen abtrünnigen Provinz eskalieren und von einem Tag auf den anderen die Lieferungen ausbleiben.
Europäische Chipfirmen wie Infineon oder NXP beziehen viele hochmoderne Halbleiter von Auftragsfertigern in Taiwan. Vor allem TSMC beherrscht sehr komplexe Technologien. Aus China wiederum stammen wichtige Bauteile für die europäische Industrie, die mit eher älteren Fertigungsverfahren hergestellt werden.
Der Dax-Konzern errichtet in Dresden ein weiteres Werk und gibt dafür fünf Milliarden Euro aus.
(Foto: dpa)
Die großen Werke, die gerade in Amerika entstehen, werden den Chipkunden in Europa wenig helfen, um die Abhängigkeit von China und Taiwan zu verringern. „In Amerika fließen die Gelder bislang vor allem in Werke für Chips der kleinsten Strukturgrößen“, konstatiert Ondrej Burkacky, Halbleiterexperte des Beratungsunternehmens McKinsey. Es sind dies Halbleiter, wie sie vor allem für Smartphones und Computer verwendet werden. Diese Geräte werden in Europa aber kaum produziert.
Europa könnte dagegen zusätzliche Werke für Chips reifer Technologiegenerationen gebrauchen. Diese werden aber weltweit selten neu gebaut. Der Grund: Es rechnet sich nicht wirklich. „Die Hürden dafür sind hoch, denn sie müssen gegen Hersteller antreten, deren Equipment längst abgeschrieben ist“, erklärt BCG-Berater Mohr.
TSMC zögert mit Zusage für Dresden
Wie schwierig es ist, ausländische Investoren zu gewinnen, zeigt TSMC. Der weltgrößte Auftragsfertiger verhandelt seit mehr als einem Jahr über eine Milliardeninvestition in Dresden. Die Taiwaner erwägen, eine Fabrik für Chips mit Strukturgrößen zwischen 16 und 28 Nanometer zu errichten. Zum Vergleich: Technologisch führend ist TSMC gerade mit seinem Drei-Nanometer-Verfahren. Allerdings sind dies genau die Strukturgrößen, die etwa die Autoproduzenten in Europa künftig benötigen.
Für das Werk in Sachsen fordern die Asiaten einerseits staatliche Subventionen, andererseits verbünden sie sich mit Partnern und sichern sich damit zugleich Aufträge und Auslastung. So sollen Handelsblatt-Informationen zufolge Infineon, NXP und der Autozulieferer Bosch mit an Bord sein. Im August will das Management von TSMC eine Entscheidung fällen.
Dass Europa weit davon entfernt ist, das selbst gesetzte 20-Prozent-Ziel zu erreichen, das weiß auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Um die Vorgabe zu erreichen, müsse Europa die „heutige Kapazität vervierfachen“, sagte die Politikern jüngst beim Spatenstich für eine neue Fabrik von Infineon in Dresden.
Dazu kommt: Experten kritisieren, dass Europa bislang vor allem den Kern der Chipproduktion fördert, die sogenannte Frontend. Für das personalintensive Testen und Verpacken, das Backend, würden die Bauteile auch in Zukunft nach Asien verschickt, so Halbleiteranalyst Alan Priestley vom Marktforscher Gartner.
Immerhin, ein Anfang ist gemacht. So steckt Infineon fünf Milliarden Euro in ein Werk in Sachsen. Der US-Konzern Wolfspeed baut für knapp drei Milliarden Euro im Saarland. ST Microelectronics gibt mehrere Milliarden an bestehenden Standorten in Frankreich und Italien aus. Intel will 17 Milliarden in Magdeburg investieren.
Insgesamt werden Everstream zufolge in Europa knapp 32 Milliarden Dollar in Fabriken fließen, die ihren Betrieb zwischen 2021 und 2026 aufnehmen. Die Vorhaben in Amerika belaufen sich derweil auf rund 160 Milliarden Dollar.
Die Amerikaner entdecken ihre Heimat
Dass Europa bei den neuen Chipwerken hinterherhinkt, liegt auch an der Dominanz der Amerikaner in dem Geschäft. Sieben der zehn größten Halbleiterkonzerne der Welt stammen Gartner zufolge aus den USA. Jahrelang haben sie ihr Geld an günstigen Standorten in Asien investiert. Mit den üppigen Zuschüssen der Regierung Biden ändert sich das, das eigene Land ist wieder attraktiv.
Das sei aber noch nicht alles, so Wolfgang Büchele, Chef des Anlagenbauers Exyte: „US-Chiphersteller haben auf dem Heimatmarkt den zusätzlichen Vorteil, dass sie an bestehenden Standorten auf bereits vorhandener Infrastruktur aufbauen können, während bei neuen Projekten wie beispielsweise in Magdeburg ein Campus von null aufgebaut werden muss.“
Wolfspeed macht Europa Mut
Immerhin ist Europa nicht ganz chancenlos, wie die Ansiedlung von Wolfspeed zeigt. Die staatlichen Hilfen seien in Amerika und der EU „ähnlich“, sagte Wolfspeed-Chef Gregg Lowe jüngst in München. Der Vorteil für Wolfspeed in Deutschland seien die leicht verfügbaren Arbeitskräfte. Das Unternehmen kann auf Personal des Autozulieferers ZF zurückgreifen, der sich an dem Werk im Saarland beteiligt und gemeinsam mit Wolfspeed auch zwei Chip-Forschungszentren aufbaut.
Für Wolfspeed sei zudem wichtig, künftig nicht mehr nur in der amerikanischen Heimat zu produzieren. „Unsere deutschen Automobilkunden freuen sich, eine Halbleiterfabrik um die Ecke zu haben“, unterstrich Lowe.
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