Düsseldorf Niemand war so lange Chefredakteur von Europas größter Boulevardzeitung wie er. Am Donnerstag hat der frühere Chef der „Bild“-Zeitung Kai Diekmann nun seine Memoiren veröffentlicht.
„Ich war Bild“, steht auf dem Werk. Diekmann, 58, darf das behaupten: Zwischen 2001 und 2017 war er Chefredakteur und später Herausgeber von Deutschlands mächtigster, populärster und wohl meistgehasster Zeitung. „Bild ist meine Droge“, schreibt er.
Zu Diekmanns Zeit erreichte die „Bild“ mit Schlagzeilen wie „Wir sind Papst“ noch zwölf Millionen Leser, fast doppelt so viele wie heute. Im Prolog gibt er an, ein „manischer Messi“ zu sein. Seine aufbewahrten Notizen, Kalender und Tagebucheinträge ermöglichen Einblicke in den Medienkonzern Axel Springer und beleuchten die Mechanismen von Medien, Macht und Politik. 350 Seiten hatte Diekmann geplant, fast 550 sind es geworden – garniert mit Briefen und Fotos als Belege.
Das Buch fällt in eine Zeit, in der es im Axel Springer Verlag turbulent zugeht. Nach Diekmanns Abgang hat „Bild“ gleich fünf Chefredakteure verschlissen, dem zwischenzeitlichen Chef Julian Reichelt wird Machtmissbrauch vorgeworfen.
Zudem wurden zuletzt interne Chats publik, in denen Verlagschef Mathias Döpfner sich abfällig über Ostdeutsche oder Ausländer geäußert hat. Die Nachrichten legen auch nahe, dass sich der Manager in die Inhalte eingemischt hat.
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Auf Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste steht gerade Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“. Er berichtet von einer Redaktion, in der Mitarbeiterinnen den Machtmissbrauch ihres Chefredakteurs beklagen. Beobachter sehen darin die Zustände bei Springer beschrieben, Stuckrad-Barre bezeichnet das Werk als Fiktion.
Keine Fortsetzung der Springer-Skandale
Wer in Diekmanns Biografie eine Fortsetzung der Skandale bei Springer erwartet, wird enttäuscht. „Über Nachfolger wird öffentlich nicht geredet“, schreibt Diekmann im Epilog. „Ohne Frage hätte ich mir eine glücklichere Entwicklung gewünscht.“ Das sei Stoff für ein weiteres Buch. Reichelt kommt nur ein halbes Dutzend Mal beiläufig zu Wort, wenn Diekmann aus gemeinsamen Recherchen oder Redaktionssitzungen berichtet.
„Ich bin Bild“ ist vor allem ein nostalgischer Blick in die Vergangenheit, als die Zeitung noch ein Leitmedium war und es im Verlagssitz harmonischer zuging als heute. All jene, die sich für die Medienbranche, die internen Abläufe einer Boulevardzeitung und das Verhältnis von Journalisten zu Politikern interessieren, werden auf ihre Kosten kommen.
Und doch sagt das Buch auch etwas über die Gegenwart von Springer aus. Diekmann veröffentlicht in seinem Buch zahlreiche Nachrichten, die Döpfner ihm geschickt hat. Das gilt gerade für das lesenswerte erste Kapitel, in dem der Autor die Affäre um den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff thematisiert.
Das Verhältnis der beiden Männer gilt nach der Berichterstattung als belastet.
(Foto: dpa)
Die „Bild“-Zeitung hatte damals aufgedeckt, dass Wulff in seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident eine Frage zur Finanzierung seines Eigenheims nicht wahrheitsgemäß beantwortet hatte. Wulff versuchte die Berichte zu verhindern, indem er Diekmann auf die Mailbox sprach und ihm mit „Krieg“ und einem „Strafantrag“ drohte.
Während dieser Zeit tauschten sich Döpfner und Diekmann oft aus. „Ggf. müssen wir auf das Interview mit Wulff ganz schnell reagieren. Es kann ja sein, dass er eine Lüge in die Welt setzt“, zitiert Diekmann diese SMS von Döpfner. Das Kapitel zeigt, wie Döpfner die Berichterstattung vorantreiben wollte. Aber: „Ich hatte nie das Gefühl, Anweisungen von ihm zu bekommen“, sagt Diekmann nun in einem Interview über den Verlagschef.
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Das Verhältnis der beiden gilt als ambivalent, Dickmann verfolgte den Plan, in den Springer-Vorstand aufzusteigen, was aber an Döpfner gescheitert sein soll. Nach seiner Zeit bei „Bild“ gründete Diekmann die Agentur Storymachine, bei der er aktuell aber nicht operativ tätig ist.
Ambivalentes Verhältnis von Medien und Politik
Das mit den Worten „Ziemlich beste Feinde“ überschriebene erste Kapitel beschreibt das schwierige Verhältnis von Medien und Politik, von Diekmann und Wulff. Der „Bild“-Chef war in seiner Anfangszeit häufig zu Gast im Schloss Bellevue. Diekmann zitiert Briefe von Wulff an den „sehr geehrten lieben Kai Diekmann“, der sich für die „Unterstützung im Umfeld der Wahl zum Bundespräsidenten“ bedankte.
Kai Diekmann: Ich war BILD
Deutsche Verlags Anstalt
München 2023
544 Seiten
34 Euro
Doch es kommt zum Bruch zwischen den beiden Männern, „das Amt hatte ihn verändert, leider nicht zum Guten“, schreibt Diekmann. Wulff behauptet später, sich von der „Bild“ bedrängt gefühlt zu haben. Kritiker werfen der Zeitung vor, eine Kampagne gegen Wulff gefahren zu haben. Diekmann schreibt dazu: „Ich halte es für einen Irrtum zu glauben, Medien dürfen keine Kampagnen machen.“ Man müsse leidenschaftlich dafür kämpfen, wenn man etwas für richtig oder falsch halte.
Zwölf Kapitel über Morddrohungen, Versöhnungen und Streits
Diekmanns Buch ist in zwölf Kapitel unterteilt: Er berichtet, wie er nach Morddrohungen unter Polizeischutz stand und sein Auto angezündet wurde. „An manchen Tagen trudeln im Springer-Verlag mehr Hassbriefe ein als Rechnungen.“
Er thematisiert seine Versöhnung mit dem „Bild“-Kritiker Günter Wallraff und seinen Streit mit Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Bei ihm entschuldigt er sich: Mit Schlagzeilen wie „Rentenkürzungen wegen Hartz IV?“ kritisierte die „Bild“ die SPD damals. „Heute weiß ich, das war eine brutale Kampagne, die in der Sache falsch war“, schreibt Diekmann.
Er lobt die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel und fordert auf, sich bei dieser Frage stärker zu engagieren. Mit Schlagzeilen wie „Refugees welcome“ berichtete „Bild“ damals positiv über die Flüchtlinge. Diekmann hat in dieser Frage offenbar eine andere Sicht als Verlagschef Döpfner. In dessen geleakten Chats wurden viele fremdenfeindliche Aussagen publik.
Ersten Ärger hat sich Diekmann mit seinem Buch bereits eingehandelt: Der Sohn von Altkanzler Helmut Kohl prüft, rechtliche Schritte einzuleiten, weil er sich falsch wiedergegeben fühlt. Damit muss Diekmann gerechnet haben, gleich am Anfang schreibt er, Juristen hätten jede Seite geprüft.
Diekmanns Treffen mit den Mächtigen der Welt
Diekmann bezeichnet Kohl als „väterlichen Freund“, bei dem er Trauzeuge war und am Sterbebett stand. An vielen Stellen will Diekmann den Eindruck vermitteln, den Mächtigen dieser Welt auf Augenhöhe begegnet zu sein.
Diekmann hat sich oft mit den mächtigen Politikern dieser Welt getroffen.
(Foto: imago/ITAR-TASS)
„Ich bin Theaterdirektor“, schreibt er – dabei war er selbst mit auf der Bühne: Er sprach mit mächtigen Politikern wie dem früheren US-Präsidenten Donald Trump oder Russlands Staatschef Wladimir Putin. Mit Putin war er nach seinem Interview 2001 sogar gemeinsam schwimmen. „Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass eines Tages so viel Blut an seinen Händen kleben würde“, schreibt Diekmann.
Der Ex-„Bild“-Chef versucht in seinem Buch, Zeitgeschichte mit eigenen Beobachtungen zu garnieren. Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi soll bei Kohls Trauerfeier gelegentlich eingeschlafen sein. Und bei einer Gala in Istanbul verschwanden Alkohol und Musik hektisch, weil der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unerwartet auftauchte.
Marketing in eigener Sache
Mit seinem Buch betreibt Diekmann vor allen Dingen Marketing für die „Bild“-Zeitung und seinen Journalismus. Er propagiert oft, auf der richtigen Seite gestanden und deshalb sogar auf Schlagzeilen verzichtet zu haben. So verweist er etwa darauf, dass die Tonaufnahme der Wulff-Mailbox bis heute nicht veröffentlicht ist.
Für Diekmann wurde das Schreiben des Buches zu „einer unerwarteten Seelenreise“, bekundet er. „Es gibt nicht nur eine Wahrheit“, schreibt er, „verschiedene Wahrheiten können sich diametral gegenüberstehen.“ Das gilt offenbar auch für seinen Abgang bei Bild.
Eine Mitarbeiterin warf ihm sexuelle Belästigung vor. Die erfolgte Kündigung sei lange geplant gewesen und habe „den geplanten Abschied allenfalls beschleunigt“, hieß es damals von Springer. Die Staatsanwaltschaft konnte keine Beweise für die Vorwürfe finden. Das lässt Diekmann in seinem Buch gänzlich unerwähnt.
Dafür beantwortet er die Frage, was seine Macht als Bild-Chefredakteur war. „16 Jahre habe am Ende ich darüber entscheiden, wer die großen Bühnen und die hellen Scheinwerfer bekommt, um mit seinen Botschaften ein Massenpublikum zu erreichen.“ Das will er mit seinem Werk in abgeschwächter Form offenbar wieder schaffen. Die Startauflage liegt laut der Verlagsgruppe Penguin Random House bei 70.000 Exemplaren, eine weitere ist in Vorbereitung.
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