Brüssel, Washington, Berlin Neuen Regierungen steht normalerweise eine Schonfrist von 100 Tagen zu. Die erst einen Monat alte Ampelkoalition schont sich jedoch selbst nicht. Der Streit über die Ostseepipeline Nord Stream 2 verdirbt die Stimmung, schon jetzt. „Mich irritiert, dass ein Koalitionspartner hinter den Geist des Koalitionsvertrags zurückfällt“, zürnt der Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky und fordert ein Machtwort von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). „Der Kanzler muss die Place der Bundesregierung jetzt klarstellen.“
Grund für den grünen Ärger sind Äußerungen von Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht und SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Nord Stream 2, so formulierten sie es, dürfte nicht in den Konflikt mit Russland über die Ukraine „hineingezogen“ werden und habe als privatwirtschaftliches Projekt zu gelten. „Energieprojekte sind geostrategisch bedeutend, in einer harten Section der Provokation und Konfrontation durch Russland kann nichts als geopolitisch impartial gelten“, entgegnet Lagodinsky.
Ähnliche Stimmen kommen aus der FDP. Es wundere ihn, sagt der neue Generalsekretär der Liberalen, Bijan Djir-Sarai im Gespräch mit dem Handelsblatt, „wenn behauptet wird, Nord Stream 2 sei ein rein wirtschaftliches Projekt“. Das stimme nicht. „Natürlich gibt es eine politische Dimension.“
Noch deutlicher wird Franziska Brandmann, Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen. Sie fordert die Bundesregierung auf, die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu verhindern. Eine russische Regierung, die Oppositionelle in Arbeitslager stecke, Menschenrechtsorganisationen auflöse und mit einer militärischen Aggression gegen die Ukraine drohe, müsse „von der deutschen Bundesregierung in ihre Schranken verwiesen werden“, sagt Brandmann.
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Doch nicht nur koalitions-, auch außenpolitisch belastet der Streit über die Pipeline die Bundesregierung. In Washington haben die Einlassungen der SPD erhebliche Irritationen ausgelöst. Die Äußerungen Lambrechts wurden nur Stunden später vom republikanischen Senator Ted Cruz aufgegriffen, der seit Jahren Sanktionen gegen das Milliardenprojekt vorantreibt.
Biden will eng mit Deutschland zusammenarbeiten
„Die deutsche Verteidigungsministerin sagt, Nord Stream 2 sei nicht verhandelbar. Deutschland ist nicht bereit, irgendetwas zu tun, um die Pipeline zu stoppen“, wütete Cruz am Donnerstag, kurz bevor der US-Senat über neue Sanktionen abstimmte. Die Bundesregierung sei „hoffnungslos zerstritten“, und Deutschland mache sich mitschuldig, wenn Russland die Ukraine „von der Landkarte lösche“.
Ein Gesetzentwurf des Texaners, der unmittelbare Strafen gegen das Milliardenprojekt erzwingen wollte, schaffte es am Ende nicht durch die mächtige Kongresskammer – auch, weil das Weiße Haus stark dagegen lobbyierte. Denn die Regierung von Präsident Joe Biden will gerade jetzt, im Schulterschluss gegen Russland, Deutschland nicht brüskieren. „Wir müssen eng mit unseren europäischen Partnern, einschließlich Deutschland, vereint sein“, teilte der Nationale Sicherheitsrat des Weißen Hauses mit. Umso mehr verärgert die Haltung der SPD-Politiker die US-Regierung.
Nord Stream 2 ist seit September fertig gebaut, die Betreibergesellschaft benötigt aber noch die Zertifizierung durch die Bundesnetzagentur. Die Bonner Behörde hatte ihr Verfahren im November ausgesetzt, da die Nord Stream 2 AG nicht nach deutschem Recht organisiert ist. Die Gazprom-Tochter hat ihren Sitz im schweizerischen Zug und muss nun einen deutschen Ableger gründen.
Die US-Regierung und ihre Verbündeten im Senat werten die Verfahrenspause als Beleg dafür, dass die amerikanische Diplomatie Früchte trägt. „Die deutsche Regierung hat sich erneut dazu bekannt, dass Nord Stream 2 gestoppt wird, wenn Russland die Ukraine angreift“, sagte die US-Spitzendiplomatin Victoria Nuland vor einigen Tagen. Eine Aussage, die in direktem Widerspruch zu den Einlassungen Lambrechts und Kühnerts steht.
Nuland ging vergangene Woche auf dem Capitol Hill ein und aus, um unentschlossene Demokraten zu überzeugen, von den radikalen Cruz-Sanktionen Abstand zu nehmen – mit Erfolg. „Wir sind jetzt in einer anderen Scenario als vor ein paar Monaten“, betonte die demokratische Senatorin Jeanne Shaheen.
US-Senat will bald über neues Sanktionsgesetz abstimmen
Sie stimmte gegen das Sanktionsgesetz von Cruz, obwohl sie eine Kritikerin von Nord Stream 2 ist. „Die Dynamik hat sich verändert“, sagte sie mit Blick auf die neue Bundesregierung. „Der einzige Weg ist es, Deutschland vom Stopp zu überzeugen“, pflichtete der Demokrat Chris Murphy bei. Damit sehe es intestine aus.
Doch auch das Vertrauen der Demokraten in die Bundesregierung ist erschüttert. Noch im Januar will der Senat daher über ein neues Sanktionsgesetz abstimmen: Der Entwurf des Senators Bob Menendez, Vorsitzender der Außenausschusses, sieht weitreichende Sanktionen im Fall eines russischen Einmarschs in die Ukraine vor.
Die geplanten Strafen richten sich gegen Nord Stream 2, russische Banken und hochrangige russische Militär- und Regierungsbeamte, darunter Wladimir Putin. Das Weiße Haus unterstützt den Vorstoß und sendet damit ein klares Sign an Deutschland: Die Pipeline sei ein „Werkzeug des Bösen“, heißt es in Menendez’ Entwurf, die US-Regierung müsse alles tun, damit die Gasleitung niemals in Betrieb gehe.
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