Berlin Die neue Bundesregierung hat sich in der Sicherheitspolitik klare Ziele gesetzt. Im Ampelkoalitionsvertrag heißt es: „Die Eingriffe des Staates in die bürgerlichen Freiheitsrechte müssen stets intestine begründet und in ihrer Gesamtwirkung betrachtet werden.“ SPD, Grüne und FDP versprechen darum eine „Überwachungsgesamtrechnung“ und bis spätestens Ende 2023 eine unabhängige wissenschaftliche Analysis der hiesigen Sicherheitsgesetze.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bekräftigte die Pläne jüngst beim virtuellen Neujahrsempfang des Deutschen Anwaltvereins und beteuerte: „Es geht darum, Freiheit und Sicherheit in eine grundrechtsorientierte neue Stability zu bringen.“
Tempo macht nun die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und liefert eine Blaupause für die Umsetzung der „Überwachungsgesamtrechnung“.
Im Auftrag der Stiftung hat das Freiburger Max-Planck-Institut (MPI) zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht ein Modellkonzept erstellt. Es trägt den Titel „Überwachungsbarometer für Deutschland“ und liegt dem Handelsblatt exklusiv vor.
Es gehe um eine Gesamtbetrachtung, „die alle verfügbaren staatlichen Überwachungsmaßnahmen quasi aufaddiert“, heißt es in dem Gutachten mit Blick auf Datenabfragen der Behörden zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Erstes Fazit der Forscher: In nahezu allen Bereichen zeige sich eine „deutliche Zunahme“ der behördlichen Zugriffe auf Daten.
Überwachungslast der Bürger „besonders anschaulich“
Besonders stark fiel der Anstieg bei den verschiedenen Formen der Kontoabfrage und bei der Abfrage von Telekommunikationsverkehrsdaten aus, schreiben die MPI-Wissenschaftler. Bei der Abfrage von Kontobestandsdaten sei die Zunahme zuletzt „quick exponentiell“ verlaufen.
Heruntergebrochen auf die Perspektive der Bürger, etwa für das Jahr 2018, bedeute das an jedem Werktag durchschnittlich 73 Anordnungen der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) und 110 Verkehrsdatenabfragen durch Strafverfolgungsbehörden, 3758 einfache Kontoabfragen und 205 Abfragen von Kundendaten durch verschiedene Behörden bei den drei marktführenden IT-Providern Microsoft, Apple und Google.
„Bereits dieser kleine Ausschnitt lässt die Überwachungslast in besonders anschaulicher Type erkennbar werden“, heißt es in dem Konzept.
Anlass für die Debatte ist das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung. Die Karlsruher Richter erklärten hier eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung im Bereich der Telekommunikation für Zwecke der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung zwar grundsätzlich für zulässig, hielten jedoch die konkrete Ausgestaltung der damaligen Regelungen im Telekommunikationsgesetz für verfassungswidrig.
Jenseits des konkreten Einzelfalls führte das Gericht aus, dass der Gesetzgeber bei der Erwägung neuer Speicherungspflichten und -berechtigungen mit Blick auf „die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen“ zukünftig zu größerer Zurückhaltung gezwungen sei. In der Folge entstand dann eine Diskussion um eine mögliche Überwachungsgesamtrechnung.
Die Freiburger MPI-Forscher Ralf Poscher, Michael Kilchling und Lukas Landerer haben nun ein Modell entwickelt, mit dem künftig die Überwachungslast der Bürger gemessen werden könnte.
Konkrete Pilotstudie zur „Überwachungslandschaft“
Für das Barometer muss es demnach zunächst eine Bestandsaufnahme der Überwachungsszenarien geben. Zu klären sei auch, welche Sicherheitsbehörden überhaupt Zugriff auf die spezifischen Daten hätten und um welche Zugriffszahlen es gehe.
Die Zugriffe würden schließlich nach verfassungsrechtlichen Kriterien gewichtet – zu berücksichtigen sei additionally etwa die Dauer der Maßnahme, ihre „Streuwirkung“ oder „Heimlichkeit“. Die Eingriffsintensität lasse sich so zum Beispiel als geringfügig, empfindlich oder besonders stark einstufen. Auf diese Weise entstehe ein Überwachungsindexwert.
Die Ergebnisse seien dann zu aggregieren. Messbar wären die gesamte Überwachungslast, einzelne Szenarien oder eine regionale Überwachung.
Konkret haben die Forscher bereits eine Pilotstudie durchgeführt. Dafür sammelten sie zunächst „besonders praxisrelevante Überwachungsszenarien“. Ihrer Meinung nach hat es eine „solche umfassende Bestandsaufnahme“ der „Überwachungslandschaft“ in Deutschland bislang nicht gegeben.
Die siebenseitige Übersicht mit 14 Szenarien reicht von der klassischen Telekommunikationsüberwachung über die Abfrage von Account-Daten bei Telemediendiensten wie Suchmaschinen, Webmail-Diensten oder sozialen Medien bis hin zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung von Kundendaten bei Banken zur Geldwäschekontrolle oder von Flugpassagierdaten zur Terrorismusbekämpfung.
Auf der Liste finden sich auch die Wohnraumüberwachung durch smarte Haushaltsgeräte, die Abfrage von Mobilitätsdaten und die Rasterfahndung.
Viele staatliche Stellen können auf Daten zugreifen
Aufgeführt ist zudem, wie viele staatliche Stellen auf die Daten zugreifen können, etwa die Staatsanwaltschaft, das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei, die jeweilige Landespolizei, Nachrichtendienste, Steuerbehörden, Zollbehörden, die Netzagentur, die Bafin oder das Bundeszentralamt für Steuern.
Für die Pilotstudie haben sich die MPI-Wissenschaftler zunächst auf eine Auswahl „besonders eingriffsrelevanter Überwachungssachverhalte“ beschränkt. Dabei sei teilweise „detektivische Recherchearbeit“ notwendig, um an die Daten heranzukommen.
Resultat: Die Zahl der Datenabfragen bei den IT-Providern steigt erkennbar. Auch nimmt die Überwachungsdichte im Zusammenhang mit der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung von Kontoführungs- und sonstigen Finanztransaktionsdaten zu, ebenso die Bestandsdatenabfrage bei Bankkonten.
Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die nun stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist, sagte dem Handelsblatt: „Die in der Studie ausgewerteten Daten zu Überwachungsmaßnahmen zeigen teils absurde Auswüchse von Überwachung.“ So werde in Bayern viermal so häufig überwacht wie anderswo in Deutschland.
Viele Datenzugriffe und -übermittlungen fänden zudem schon so automatisiert statt, „dass ihre Wirksamkeit gar nicht mehr hinterfragt wird“. Die Debatte zu Sicherheitsgesetzen müsse „endlich wieder versachlicht werden“.
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