Kaja Kallas warnt den Westen eindringlich vor zu viel Naivität gegenüber Russland. Und dann erzählt Estlands Premier eine erstaunliche Episode aus dem Jahr 1994.
Sie steht seit Kurzem auf einer Fahndungsliste Russlands. Diktator Wladimir Putin stellt ihr also nach. Und doch hat sie keine Angst, Klartext zu reden – genau das tat Kaja Kallas nun auch in Hamburg. Dort war die estnische Premierministerin zum traditionellen Matthiae-Mahl eingeladen worden.
„Mein Volk und ich beobachten mit einer gewissen Sorge, wie wenig wahrgenommen wird, was sich derzeit in den Weiten Russlands zusammenbraut“, sagte die 46-Jährige am Dienstagabend im Großen Festsaal der Hansestadt. Auch Kanzler Olaf Scholz nahm an der Veranstaltung teil. Kallas mahnte in Gegenwart des SPD-Politikers um mehr Unterstützung für die Ukraine.
„Gemeinsam können wir der Ukraine helfen, diesen Krieg zu gewinnen. Wir haben die Ressourcen, die wirtschaftliche Macht, den Sachverstand“. Die Stärke des Westens überwiege jene Russlands. „Lasst uns keine Angst haben vor unserer eigenen Macht“, sagte sie vor rund 400 Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.
Zehnmal mehr Munition als die Ukraine
Mit scharfen Worten warnte sie die westlichen Verbündeten vor allzu großer Naivität gegenüber Russland. „Wir müssen schonungslos ehrlich zu uns selbst sein – genauso wie Russland immer noch ukrainische Städte bombardiert und durch ihre Städte und Dörfer marschiert, wir haben unsere Versprechen nicht eingehalten“, sagte Kallas. Der Ukraine gehe die Munition aus. Langfristige Verpflichtungen seien wichtig, aber es sei auch eine Tatsache, dass die Seite gewinne, die über mehr Munition verfüge. Und das ist eindeutig Russland.
Bei der Schlacht um Awdijiwka verfügten die russischen Aggressoren zum Teil über zehnmal mehr Munition als die ukrainischen Verteidiger. Auch konnte sich Russland auf seine Luftüberlegenheit stützen, zum Teil startete die russische Luftwaffe bis zu 70 Angriffe auf die umkämpfte Stadt pro Tag. Nach Monaten verlustreicher Gefechte gab die Ukraine den Ort daher vergangene Woche auf. Dies könnte nun auch weiteren Orten im Donbass drohen.
Militärexperten wie der österreichische Oberst Markus Reisner sehen bereits Anzeichen dafür, dass die Front im Osten der Ukraine zugunsten Russlands ins Rutschen kommt. „Das Momentum liegt ganz klar bei den Russen“, sagte er kürzlich zu „ntv.de“. Wie dramatisch die Lage für die Ukraine zum Teil ist, beschrieb Reisner so: „Die Ukrainer haben noch versucht, so viel Soldaten und Gerät wie möglich herauszubekommen und sogar einen Gegenangriff durchzuführen. Aber der ist im Feuer der Russen liegen geblieben, zum Teil unter schweren Verlusten.“
Kallas wird deutlich
Angesichts der russischen Überlegenheit und der Unfähigkeit des Westens, die Ukraine mit ausreichend Kriegsmaterial zu unterstützen, wurde Kallas in Hamburg deutlich. Sie erinnerte an die Münchner Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende. Dort habe der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu Recht die Frage gestellt, warum Putin den Krieg immer noch fortsetzen könne. „Wir müssen diese Frage beantworten – nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten“, so die estnische Regierungschefin. Ihr habe in München die Siegesgewissheit gefehlt.
Verteidigung sei keine Eskalation, Widerstand provoziere Russland nicht, Schwäche tue es, sagte Kallas. Sie werde immer wieder gefragt, was Russlands Präsident Wladimir Putin tun werde, wenn er verlieren würde. „Meine Antwort: Wir sollten uns mehr Sorgen darüber machen, was er tun wird, wenn Russland gewinnt.“ Es sei an der Zeit, die Grauzonen der Sicherheit in Europa zu beenden. „Die Zukunft der Ukraine liegt in der Nato und der EU.“
Kanzler Scholz sagte, Russland wolle mit seinem „imperialistischen, mörderischen Angriffskrieg“ die Geschichte Europas umschreiben und die Grenzen mit Gewalt verschieben. „Für uns als Demokratien, als Europäer, als Freunde der Freiheit kann es keine Alternative dazu geben, die Ukraine weiter zu unterstützen. So lange wie nötig.“ Höre die Ukraine auf zu kämpfen, gebe es keine Ukraine mehr. „Deswegen gibt es für die Ukraine weiterhin keine Alternative, als zu kämpfen.“