Hevres Becker lebt seit 38 Jahren in der Litterode in Essen-Leithe. Doch das soll sich bald ändern. Die Siedlung soll abgerissen werden. Zahlreiche Familien bangen um ihr Zuhause.
Wo einst der Kindergarten stand, klafft nur noch ein großes Loch, die Erde ringsherum ist aufgewühlt. Hochgewachsene Bäume sind einem großen, türkisfarbenen Bagger gewichen. Seit Anfang Oktober schreiten die Abrissarbeiten in der Siedlung Litterode in Essen-Leithe voran – und das, obwohl die Bewohner der alten Zechensiedlung noch bis zum Schluss auf Rettung gehofft hatten.
Für die Beckers ist seitdem nichts mehr, wie es vorher war. Die vierköpfige Familie lebt nur wenige Meter von den bereits abgerissenen Gebäuden entfernt und kann den Baulärm bei offenem Fenster genau hören. Erst im Februar seien sie darüber informiert worden, dass auch ihr Wohnhaus abgerissen werden soll. Ein Schock für Hevres Becker, die seit 38 Jahren in der Siedlung lebt. „Als die Allbau GmbH vor etwa zwei Jahren die Siedlung von der Stadt gekauft hat, wurde uns in einem Schreiben noch mitgeteilt, dass alles so bleibt, wie es ist. Jetzt soll plötzlich alles abgerissen werden“, beklagt sie.
Grund dafür ist ein geplantes Neubauprojekt. Essens größter Wohnungsanbieter möchte in der Litterode bis 2028 insgesamt 73 neue Wohneinheiten und 100 Stellplätze bauen. „Zusätzlich werden angeschlossene Spiel- und Grünflächen für die Mieter genauso zur Verfügung stehen wie individuell nutzbare Mietergärten“, heißt es dazu auf der Website der Wohnungsbaugesellschaft. Rund 26 Millionen Euro sollen dafür investiert werden.
Die bestehenden Gebäude hingegen hält der Vermieter für nicht mehr sanierbar. Ein Sprecher des Unternehmens teilt auf t-online-Anfrage mit, die vorhandene Bausubstanz habe die Endphase ihrer Nutzung erreicht. Die Gebäude würden in ihrem Zustand und ihrer Erscheinung das Umfeld belasten. Zudem entsprächen die Häuser nicht den Anforderungen für den CO₂-Ausstoß.
Hevres Becker und ihre Nachbarn sehen das anders. „Viele von uns haben viel Geld in die Instandsetzung der Häuser gesteckt, weil die Stadt sich nicht darum gekümmert hat. Eine Sanierung wäre bei vielen der Immobilien sehr wohl möglich gewesen“, sagt sie. Um das zu beweisen, haben die Bewohner der Siedlung sogar einen Architekten der Universität Hannover mit ins Boot geholt, der ein Gutachten erstellt hat. Auch er hält demnach die Sanierung vieler Gebäude für möglich und findet, dass längst nicht alles abgerissen werden muss, um den Bebauungsplan umzusetzen.
Das Gutachten war Ende September in einem persönlichen Gespräch Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) vorgelegt worden. Dieser wollte sich die Alternativpläne anschauen und sie auch an die Allbau GmbH weiterleiten, sagt Hevres Becker. Der Beginn der Abrissarbeiten Anfang Oktober überraschte die Mieter daher umso mehr.
Bis zum 31. Oktober soll die Familie, zu der neben Hevres und ihrem Mann auch zwei kleine Kinder gehören, ihre Wohnung nun räumen. Wo sie zukünftig leben soll, weiß die Familie nicht. Zwar habe die Allbau GmbH ihnen drei Wohnungen angeboten, diese seien aber keinesfalls geeignet gewesen, erklärt Becker. „Eine Wohnung lag direkt an einer Hauptstraße, in einer anderen war ein Kinderzimmer nicht größer als eine Abstellkammer“, beklagt Becker. In der dritten Immobilie habe es sogar Schimmel gegeben.
„Es ist uns ein Rätsel, wie wir bei der angespannten Lage auf dem Immobilienmarkt in so kurzer Zeit eine gleichwertige Wohnung finden sollen“, sagt die Familie, die auch auf eigene Faust bisher nicht fündig wurde. Erschwert werde die Situation dadurch, dass Beckers Eltern ebenfalls in der Siedlung leben. Der pflegebedürftige Vater sei auf Hilfe angewiesen, weshalb man im besten Fall gleich zwei Wohnungen in direkter Nähe zueinander benötige.
Vor allem die fehlende Kommunikation mit dem Vermieter kritisiert die Familie. Niemand habe sich vor Ort ein Bild von der Situation gemacht, die Einschätzung der Immobilienzustände sei nur aufgrund von vergleichbaren Daten gemacht worden. Anfragen werden zudem nur mit standardisierten E-Mails beantwortet.