Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine jährt sich bald zum zweiten Mal. Ein bisher kaum beachtetes Thema ist die sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Eine neue Studie zeigt die dramatischen Folgen.
Bombenalarm, Luftschutzkeller und jede Menge Zerstörung erleben viele ukrainische Kinder – vor allem seit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022. Ein Thema, das in diesem Zusammenhang bisher kaum in der Öffentlichkeit präsent war, ist die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Nun hat sich eine Studie des Hilfswerks Kindernothilfe damit befasst. Dafür befragten die Autoren 19 Experten, darunter Wissenschaftler, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Institutionen, die mit dem Thema vertraut sind.
Das Ergebnis: 915 Fälle allgemeiner sexualisierter Gewalt seien in der Ukraine festgestellt worden. 13 Fälle wurden konfliktbezogen durch russische Soldaten ausgeübt. Vor einem Jahr hatte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft nur 156 Fälle insgesamt gemeldet. Dabei sei das wohl nur die Spitze des Eisbergs, sagt Dr. Judith Striek, Autorin der Studie und Menschenrechtsbeauftragte bei der Kindernothilfe: „Es gibt eine immens hohe Dunkelziffer.“ Wie hoch diese ist, sei nicht seriös zu sagen. Ihr Co-Autor Elias Dehnen erklärt, dass im Normalzustand in Europa laut der Kampagne „One in Five“ des Europarats eines von fünf Kindern von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Im Krieg dürfte der Anteil höher sein.
Die hohe Dunkelziffer habe mehrere Gründe:
- Es fehlen Daten aus den ukrainischen Provinzen nahe der Kriegsfront und aus den von Russland besetzten Gebieten,
- In von der ukrainischen Armee befreiten Gebieten lebende Kinder und ihre Eltern bringen Fälle von sexualisierter Gewalt nicht zur Anzeige – aus Angst vor Konsequenzen durch russische Soldaten, sofern das Gebiet erneut erobert würde,
- Potenzielle Stigmatisierung und Täter-Opfer-Umkehr: Betroffene hätten Angst vor Vorwürfen, mit dem Feind kollaboriert zu haben
- durch fehlende Aufklärung ist betroffenen Kindern nicht bewusst, dass sie sexualisierte Gewalt erlitten haben,
- mangelndes Vertrauen in den Staat, in die Ermittler,
- unzureichende Opferschutzmaßnahmen.
Das jüngste Opfer war vier Jahr alt
Um noch mehr Betroffene zu ermutigen, sich bei den Ermittlern zu melden, schlagen die Autoren einen „survivor-centred-approach“ vor. Das bedeutet, dass Ermittler bei Befragungen stärker berücksichtigen, was Opfer brauchen. Das sei bisher nicht der Fall. Aber genau das könnte mehr Menschen überzeugen, mit den Behörden zu kooperieren, erklärt Dehnen.
Immerhin: Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat eine neue Abteilung eingerichtet, die sich mit konfliktbezogenen Fällen sexualisierter Gewalt befasst. Weitere Überlebende überlegten derzeit, russische Soldaten wegen sexualisierter Gewalt anzuzeigen, auch wenn die Verfolgung der Täter im Krieg schwierig sei.
Sexualisierte Gewalt
Bei sexualisierter Gewalt gibt es keine einheitliche Definition. Auf zwei Varianten beruft sich die Kindernothilfe. Die erste lautet: Eine oder mehrere Personen zwingen einer anderen Person sexualisierte Handlungen oder Inhalte aus einer Position der Macht heraus auf. Die zweite Definition: Direkte, verbale oder körperliche wie auch indirekte, nonverbale oder mediale Handlungen werden gegen den Willen der betroffenen Person ausgeführt.
Das jüngste Opfer: ein vierjähriges Mädchen aus der Region Kiew. Ein russischer Soldat hatte zuvor ihre Eltern misshandelt, dann verging er sich an dem Mädchen. Solche Kinder müssten psychologisch betreut werden. Dafür brauche es geschultes Personal, das bisher nicht ausreichend vorhanden ist.
Entsprechende Initiativen müssten ausgeweitet werden, sagt Carsten Montag, Vorstandsmitglied der Kindernothilfe. „Sexualisierte Gewalt wird als Kriegstaktik genutzt.“ Zwar seien direkte Befehle nicht nachweisbar. Doch dass sexualisierte Gewalt ein Teil von bewaffneten Konflikten ist, sei „nichts Neues“, so Judith Striek.
Tipps aus Ruanda und Bosnien
In der Ukraine sei man deshalb in Kontakt mit Organisationen aus Ruanda und Bosnien. In beiden Ländern wurde während der Genozide auch sexualisierte Gewalt als Kriegstaktik angewendet, berichtet Daria Chekalova, Vizedirektorin bei der Organisation „NGO Girls“ aus der Ukraine.
Deshalb sammle man seit Jahrzehnten Erfahrungen zu sexualisierter Gewalt. Eine Erkenntnis: Einige Betroffene melden sich erst 20 Jahre nach ihren Erlebnissen. In der Ukraine müssten sich Gesellschaft, Justiz und Politik darauf vorbereiten. „Wir müssen das hohe Niveau an Stigmatisierung bekämpfen“, sagt Chekalova. Die Destigmatisierung durch das Schaffen von Bewusstsein sei ihr wichtigstes Anliegen.
Das bestätigt auch Striek: „Es wird einen großen langfristigen Schaden geben.“ Das sei laut Montag auch das Ziel: „Es geht nicht nur darum, Menschen zu verletzten. Betroffene sollen nachhaltig geschädigt werden.“ Das Ausmaß werde erst in einigen Jahren klarer werden. Umso wichtiger sei es nun, die Stigmatisierung zu bekämpfen.
Derzeit gebe es etwa Plakate an Schulen, die Mädchen auffordern, Jungs nicht zu „provozieren“, so Striek. Ebenso glaubten viele in der Ukraine, dass nur schwule Jungs Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Solche Vorurteile und Stigmata seien bei der Aufarbeitung ein Problem. Enorme Hürden und Herausforderungen gebe es bei Kindern, die aus Vergewaltigungen entstanden sind.