Berlin Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat seine Konjunkturprognose deutlich nach unten revidiert. Die „Wirtschaftsweisen“ gehen in ihrer aktuellen Prognose nur noch von einem Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts von 1,8 Prozent in 2022 aus. Die Prognose liegt dem Handelsblatt vor. Bei ihrer vergangenen Konjunkturschätzung im November waren die Wirtschaftsweisen noch von 4,6 Prozent Wachstum ausgegangen. Für 2023 liegt die neue Wachstumsprognose bei 3,6 Prozent.
„Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine erhöht die Unsicherheit beträchtlich, dämpft das Wachstum und trägt zum Anstieg der Energie- und Verbraucherpreise bei“, heißt in der Prognose. Davon sei vor allem Europa betroffen. Für den Euroraum prognostiziert der Sachverständigenrat sowohl für 2022 als auch für 2023 ein Wirtschaftswachstum von 2,9 Prozent.
Für die Prognose unterstellen die Wirtschaftsweisen, dass die Energiepreise erhöht bleiben, es jedoch nicht zu einem Stopp russischer Energielieferungen kommt. Die Ökonominnen und Ökonomen weisen aber darauf hin: „Die große Abhängigkeit von russischen Energielieferungen birgt das erhebliche Risiko einer geringeren Wirtschaftsleistung bis hin zu einer Rezession bei gleichzeitig deutlich höheren Inflationsraten.“
In Folge der steigenden Energiepreise erwartet der Sachverständigenrat auch eine deutlich höhere Inflationsrate. Die Schätzung für Deutschland liegt für 2022 nun bei 6,1 Prozent. Das wäre der höchste Wert seit Anfang der 1990er-Jahre, als der Growth nach der deutschen Einheit die Teuerung angeheizt hatte.
High-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Zuvor schätzten die Wirtschaftsweisen die Teuerung für das laufende Jahr noch auf 2,6 Prozent. Im Jahr 2023 soll die Inflation immer noch bei 3,4 Prozent liegen. Die Inflationsrate im Euroraum wird auf 6,2 Prozent für das laufende und 2,9 Prozent für das kommende Jahr prognostiziert.
Wirtschaftsweise warnen am eindringlichsten
Zuvor hatten bereits andere Konjunkturforscher ihre Wachstumsaussichten gedämpft. Allerdings fiel die Revision in keinem der Fälle so stark aus wie nun beim Sachverständigenrat. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) etwa halbierte seinen nationalen Ausblick für 2022 auf 2,1 Prozent. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) rechnet nur noch mit 2,5 Prozent und das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) prognostiziert 3,1 Prozent Wachstum.
Mit Spannung erwartet wurde auch die Positionierung des Charges bei der Frage, ob Deutschland sich ein Embargo gegen russische Energie leisten kann. Die vier Wirtschaftsweisen hatten dazu in der Vergangenheit unterschiedliche Thesen vertreten.
Die Embargo-Frage treibt die Ökonomie seit einigen Wochen um und sorgt in der Szene für erhebliche Differenzen. Die Debatte ist auch bis zu Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vorgedrungen, der sich wie der Relaxation der Bundesregierung weiter vehement gegen ein Energie-Embargo sperrt.
Seinen vorläufigen Höhepunkt hatte der Zwist am Sonntag. Scholz warf in einer Fernsehsendung einer Gruppe von Ökonomen, die ein Embargo für machbar halten, vor, sie würden „irgendwelche mathematischen Modelle zusammenrechnen, die dann nicht funktionieren“.
Eine klare, abschließende Meinung geben die Wirtschaftsweisen in ihrer Konjunkturprognose zu Embargo-Thema nicht wieder. Sie erklären aber, Deutschland müsse umgehend alle Maßnahmen treffen, um sich gegen einen Lieferstopp zu wappnen.
Viele Branchen von aktueller Unsicherheit betroffen
Auch ohne Embargo sind die konjunkturellen Aussichten düster. Unter der aktuellen Lage mit den hohen Preisen für Gasoline, Öl und Kohle leidet besonders die deutsche Energiewirtschaft. Bei der Bundesregierung ist bereits der Antrag des Energiekonzerns VNG auf ein KfW-Darlehen in Milliardenhöhe eingegangen.
Doch auch Industrieunternehmen aus energieintensiven Branchen wie Metall, Glas, Papier und Chemie sind zum Teil mit einer Vervielfachung ihrer Strom- und Gasrechnung konfrontiert. In einigen Branchen werden viele Pleiten befürchtet.
Hinzu kommen die Sanktionen gegen Russland, die deutschen Firmen Geschäfte verbieten und erheblichen bürokratischen Aufwand für die Unternehmer mit sich bringen. Zuletzt belasten auch gestörte Lieferketten die Konjunktur. In der Automobilindustrie fehlen etwa Kabelbäume, die sonst in der Ukraine hergestellt werden.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will nun darauf reagieren und staatliche Wirtschaftshilfen in großem Stil auflegen. In einem Transient an Finanzminister Christian Lindner (FDP) schreibt Habeck, dass er den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) aus der Coronakrise umwidmen will, wie das Handelsblatt berichtete.
Der Bund hatte den WSF während der Pandemie aufgelegt und mit 600 Milliarden Euro ausgestattet. Zuletzt battle das Volumen auf 150 Milliarden Euro reduziert worden. Der WSF ist dennoch weiter das mit Abstand größte Kriseninstrument der Bundesregierung.
Mit dem Geld kann der Staat sich direkt an notleidenden Unternehmen beteiligen, so wie etwa bei der Lufthansa nach dem Ausbruch der Pandemie. Zudem können Kredite durch den Fonds abgesichert werden. Ziel sei es, Insolvenzen „besonders relevanter Unternehmen abzuwenden, um die Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft zu begrenzen“. Lindner allerdings hat sich bislang gegen den Plan positioniert.